Vorwarnzeit: 81er

Kapitel aus dem Romanprojekt Vorwarnzeit

Als 81er wird hier eine politisch aktive Generation in West- und Ostdeutschland bezeichnet, die in Soziologie, Geschichtswissenschaft und Publizistik bislang weitgehend igno­riert wurde. Der Begriff ist nicht etabliert. Gemeint sind Menschen, die als Mitgestalter der #Friedensbewegung der frühen 1980er Jahre (etwa mit der ersten Bonner Großdemonstration am 10. Oktober 1981) erst­mals an die Öffentlichkeit getreten sind. Ihr Motiv, die Angst vor einem #Atomkrieg, bewegte zeitgleich auch viele gleichaltrige, politisch aktive Menschen in der DDR. Wenn wir annehmen, dass sie damals im Schnitt 22 Jahre alt waren, ergibt sich, dass die mittleren 81er den geburten­starken Jahrgängen 1958, 1959 und 1960 angehörten. Wenn wir weiter annehmen, dass ihre Eltern bei ihrer Geburt im Schnitt 27 Jahre alt waren, bekommen wir für die Eltern die ebenfalls geburtenstarken Jahrgänge 1931 bis 1933. Die Eltern der 81er waren Kriegskinder, bei Kriegsende 12 bis 14 Jahre alt. Deshalb gelten die 81er auch als sog. Kriegsenkel.

Am Rande des Waldwegs, halb im Graben, lag eine rund 20 Zentimeter lange Granate. Zuerst traute Till seinen Augen nicht.

Die Gruppe versammelte sich schweigend um den Fund, allen verschlug es die Sprache. Die Granate war fast siebzig Jahre alt, rostig, aber offenbar vollständig. Niemand traute sich, sie zu berühren. Der winterliche Waldboden der Hügel über #Verdun war pockennarbig: von zahllosen Trichtern gesprenkelt, von tiefen Wellen durchzogen. Die erdfarbe­nen Wellen waren anscheinend Reste von Schützengräben, in denen kräftige Fichten wurzelten. Till fand einen großen, zackigen Granatsplitter und ein Stückchen Stacheldraht. Der Splitter hatte vielleicht einem Mann das Bein abgerissen, ehe er in den Boden eingedrungen war. Hatte der Mann noch Zeit gehabt zu schreien? Sein Blut war in diesem Boden versickert, hatte diese Bäume gedüngt, als sie klein waren.

Jenseits des Waldes waren die Hügel hektarweit mit weißen Kreuzen bedeckt. Zwischen den Kreuzen entdeckten die deutschen Besucherinnen und Besucher ein Feld mit Grab­steinen, die anders aussahen: Ihr geschwungener Rand glich einer Kuppel. Sie erinnerten an die Überreste von Männern algerischer, tunesischer, marokkanischer und senegale­sischer Herkunft, die hier geholfen hatten, eine Festung ihrer französischen Kolonialmacht gegen anstürmende Deutsche zu vertei­digen, beim großen Bürgerkrieg der europäischen Stämme. Über dem Meer der Kreuze thronte der peinliche Marmorpimmel des Beinhauses von Verdun. Darin hatten die Franzosen sämtliche Knochen der toten Soldaten gesammelt. An jenem trüben Tag im Dezember 1984 waren die Geschichtsstudentinnen und ‑ten aus #Aachen dort unter sich. Franzosen waren nicht zu sehen.

»Weit in der Champagne im Mittsommergrün, / dort wo zwischen Grabkreuzen Mohnblümen blühn…« Hannes Waders klingende Sommererzählung nagelte Till am 10. Oktober 1981 in der Poppelsdorfer Allee fest. Er konnte nicht weitergehen, es war ohnehin alles voller Menschen, sang die Zeilen über den jungen Mann mit, der das Jahr 1916 nicht überlebt hatte.

»Hast du, toter Soldat, mal ein Mädchen geliebt? / Sicher nicht, denn nur dort, wo es Frieden gibt / Können Zärtlichkeit und Vertrauen gedeihn…« Auch Till hatte damals noch kein Mädchen geliebt. Lebte er in einem Land, in dem Zärtlichkeit und Vertrauen gedeihen konnten? Die Älteren mit ihren Kriegs­erlebnissen waren sich sicher, dass Till im Frieden aufgewachsen war. Till nicht.

Im Hofgarten sprach Heinrich #Böll. Bölls Geschichte von der Waage der Baleks hatte Till gelehrt, wie viel Mut erforderlich war, mit eigenen Händen nachzu­wiegen, was Herrschende ihren Untertanen gnädigst zugemessen hatten. Bölls Geschichte von dem abgeschnittenen Tafelspruch »Wanderer, kommst du nach Spa« hatte den Bogen geschlagen von der säulengeschmückten Kriegsverherr­lichung eines Lateinlehrers im Gymna­sium zum Krepieren eines verstümmelten Schülers in einer der letzten und sinnlosesten Schlachten des verbrecherischsten aller Kriege. In Washington planten Strategen, mit Hilfe der neuen Mittel­streckenraketen, die sie im Hunsrück stationieren wollten, dem sowjetischen Huhn in einem atomaren Erstschlag den Kopf abzuschlagen. Darüber sprachen Till und seine Freunde in dem Aachener Friedens­komitee, und ihm fiel dazu immer der blonde, blauäugige Bauer von nebenan ein, der so hieß wie sein Hof und vor den Augen des Sechsjährigen mit einer Eisenstange einem seiner Hühner den Kopf abgeschlagen hatte, um dem zartbesaiteten Nachbarsjungen zu zeigen, was ein wahrer Bauer im Leben zu tun hat.

Es war ein mächtiges Gefühl in Bonn, Teil eines historischen Ereignisses zu sein, das Till selbst mitgestaltet hatte, mit vielen Plakaten und Flugblättern. Er hatte die Person bewundert, die die reibungslose Ankunft und Abfahrt Dutzender von Sonderzügen im engen Bonner Hauptbahnhof organisiert hatte. Etliche Schau­fenster der Bonner Innenstadt waren mit Holzplatten vernagelt. Till sagte zu dem Nebenmann mit der John-Lennon-Brille:

»Guck mal! Sind wir eine Flutwelle, ein Orkan?«

Lennon II antworte:

»Die CDU hat tagelang Angst vor der Friedensdemo geschürt und so getan, als wären wir hemmungslose Chaoten.«

»Haha! Und was sind wir? Hunderttausend Lehrerinnen, Kindergärt­nerinnen, Ärzte, Kranken­schwestern, Angestellte, Studis, Schüler, Familien mit kleinen Kindern, alle mit weißen Tauben auf blauem Tuch.«

»Ja. Aber zum blanken Entsetzen von Schmidt, Kohl und Co glauben wir nicht daran, dass die kriegslüsterne Sowjetunion aufgerüstet hat, dass die friedliebende NATO nun nachrüsten muss, um zu verhindern, dass die Rote Armee mit Panzern über uns hinwegrollt. #Kohl hat im Bundestag beantragt festzustellen, dass wir alle Vaterlands- und Freiheitsverräter seien .«

»Weil wir nicht die vorgeschriebene Angst vor den Panzern der Roten Armee haben, sondern Angst vor einem Atomkrieg in Mitteleuropa. Weil wir die #Neutronen­bombe, die alle Menschen tötet, aber die heiligen Häuser und Panzer unbeschädigt lässt, für eine Perversion menschlichen Denkens halten…«

»So hat es Egon Bahr gesagt. Ein mutiger Satz!«

»…und weil es ein Irrsinn ist, dass wir Deutschen und die anderen reichen Länder der Welt Milliarden um Milliarden unseres Wohlstandes in Panzer, Kampf­flug­zeuge und Atom­raketen verwandeln, anstatt damit den hungernden Menschen der Erde zu helfen. Wie hat der Bundestag denn über Kohls Antrag entschieden?«

»Der wurde abgelehnt. SPD und FDP waren dagegen. Aber diese Ladenbesitzer haben wohl vorsichtshalber an der Phantasie festge­halten, dass wir eine rote Flut seien, die Vorhut von rheingeilen russischen Panzern, die irgendwo hinten im Osten mit ständig laufenden Motoren auf ihre Gelegenheit lauern.«

Über viele tausend Köpfe hinweg, hinten vor der Fassade der Bonner Universität, leuchtete rot ein Sprengkopf an der Spitze einer viele Meter langen Papp-Pershing-Rakete. Das Rot erinnerte Till an die Hitzewelle der Bombe von #Hiroshima, das schlimmste Feuer, das die Erdoberfläche gespürt hatte seit dem Einschlag jenes Meteoriten, dessen Staub die Saurier aussterben ließ. Die Bombe hatte 600 Meter tiefer ein Kind verbrannt wie Papier, das Mädchen von Hiroshima, dessen Epitaph Nazim #Hikmet verfasst hatte.

Till spürte die Wärme des blonden Mädchens Ute dicht an seiner Seite. »Pershing! Dat is ene doll Ding!« Heiner schlug die Rockgitarre, als die Aachener Friedens­kämpfer Ostern 1982 die lange Straße von Wegberg nach Arsbeck ablatschten. Im Friedenskomitee hatten sie viel Spaß damit gehabt, das Rockstück »Wild Thing« von den Troggs kölsch umzu­dichten auf die bescheuerten Raketen. Der Rockrhythmus rieselte Till über den Rücken, ging durch den Unterleib; das langbeinige Mädchen blieb ihm dicht an der Seite und genoss die Berührungen der Hüften ebenso wie Till. An ihren jeansblauen Oberschenkel hatte Ute einen roten Elefanten gestickt; von hinten gesehen, sein Schwanz bewegte sich beim Gehen. In der rechten Hand, mit der Till ihre Schulter umfasst hielt, spürte er den samtweichen Plüsch ihrer schwarzen Jacke. Wenn sie den Kopf zu ihm drehte, bewegte sich ihr dunkellila Halstuch über ihrem schmalen, runden, glatten Hals.

»Sind hier denn wirklich Pershing-Raketen?« fragte Ute und blickte neugierig durch ihre kreisrunden Brillengläser in die Gegend.

»Ja, Pershing-I-Raketen, die älteren Schwestern der Pershing II. Die sind auf dem Stützpunkt Arsbeck stationiert. Müssen hier irgendwo hinter NATO-Draht und Fichtenwänden in unsichtbaren Bunkern liegen.«

Sie war beeindruckt. Es war wichtig, dass sie alle hier waren. Sie rückten den verfluchten Raketen zuleibe. Der Regen hatte aufgehört. Tills Erinnerung streifte wohlig ihren Patchouli-Duft, ihr langes, dichtes Blondhaar zwischen Daumen und Fingern, das Spiegelbild seiner Nasenspitze im Glas ihres Ohrgehänges, ihre himmlisch weichen, zielstrebi­gen Lippen, das atemberaubende Spiel der Zungen, den Lustsaft in der Hose, als sie später hinten im VW-Bulli saßen und knutschten; und nicht minder stolz die große Regen­schirmparty am Folgetag, als es zwischen dem NATO-Hauptquartier Rheindahlen und der Innenstadt von Mönchengladbach stundenlang durchgeregnet hatte und sie zu Tausenden, klatschnass und glücklich sangen:

»Apel, wir kommen! Wenn’s sein muss, auch geschwommen!«

Der Himmel über Bonn war klar gewesen, und über den 300.000 hatte hilflos ein Flugzeug gekreist mit der fliegenden Parole: »Und wer demonstriert in Moskau?« Die Politiker Alois Mertes, Jürgen Möllemann und Annemarie Renger hatten es bezahlt. Wie beantworteten die 81er damals diese rhetorische Frage?

»In Moskau demonstriert der Jugendverband Komsomol für atomare Abrüstung«, erklärte Andrej, einer der Kommunisten im Friedenskomitee. »Und Breschnjew ist der gleichen Meinung.«

Das war in der Aachener Friedensbewegung umstritten. Viele andere sagten:

»USA und Sowjetunion, die beiden Supermächte, rüsten ständig auf und steigern die Gefahr eines Atomkriegs.«

Die historischen Fakten allerdings, soweit Till sie als Geschichtsstudent über­prüfen konnte, sprachen dafür, dass seit der Atombombe von #Hiroshima fast alle Aufrüstungsschritte im Rüstungswettlauf von Usa ausgegangen waren. Gert Bastian, Gerhard Kade, das Institut SIPRI hatten es vorgerechntet: Die von der NATO vorgelegten Bedrohungsszenarien kamen nur dadurch zustande, dass die NATO wesent­liche Teile ihrer eigenen Rüstung ausklammerte, zum Beispiel die britischen und französischen Atomwaffen und die amerikanischen Atom-U-Boote im Nordatlantik. Tills Gerechtigkeitssinn sträubte sich gegen eine gleich­mäßige Auftei­lung der Schuld auf die »beiden Supermächte«. Ihm war klar, dass die Sowjetunion auf ganz andere Weise unter dem Zweiten Weltkrieg gelitten hatte als das große Land jenseits des Ozeans. Auch Paula fiel ihm ein, die sächsische Geschichts­studentin und FDJlerin, die er im Jugendclub eines Städtchens am #Erzgebirge kennen gelernt hatte. Dort hatten sie an einem grob gezimmerten Tisch gesessen und über das grüne Resopal hinweg die Weltlage erörtert. Sie hatte die gleiche Angst wie Till davor, dass das ganze Land, alle Freunde und Verwandten plötzlich vom nuklearen Feuersturm verschlungen werden könnten.

Dennoch widersprach er Andrej:

»Ich mag Breschnjews Abrüstungs­angebote, ich denke, die haben Hand und Fuß und könnten uns retten. Aber dieser ketten­rasselnde und golden betresste Militarismus, mit dem sich die Rote Armee in Szene setzt, ist einfach Kacke. Und wenn ich lese, dass niemand in der SU den Kriegsdienst verweigern darf, dann macht mich das ziemlich wütend.«

Andrej versuchte, die sowjetischen Ordensgockel mit dem Großen Vater­ländischen Krieg zu rechtfertigen. Wer es geschafft habe, die faschistische Wehr­macht aus dem Heimatland zu werfen, habe ein Recht, darauf stolz zu sein.

Als ein kleiner grauhaariger Alter am Infostand am Holzgraben in Aachen auftauchte und Till anblaffte:

»Und wer demonstriert in Moskau?«

Da antwortete er:

»Ich jedenfalls nicht. Ich bin Aachener, und deshalb demon­striere ich in #Aachen. Ich bin Deutscher, und deshalb kümmere ich mich um die Kriegstreiberei und Aufrüsterei der deutschen Regierung. Von meinen Eltern habe ich den schönen Spruch gelernt: Ein jeder kehre vor seiner Tür.«

Ute lachte hell und griff Till später beim Abschiedskuss zwischen die Beine, dieses entzückende Aas.

Teil des Romanprojekts »Vorwarnzeit«

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