Vorwarnzeit: Dresden 1988

Kapitel aus dem Romanprojekt Vorwarnzeit

Dresden, die Hauptstadt Sachsens, liegt an der Elbe, nicht weit unterhalb der Stelle, wo der Fluss aus dem Elbsandsteingebirge ins Tiefland strömt. Mit 560.000 Einwohnern ist die Stadt etwas kleiner als Leipzig und die zwölftgrößte Stadt Deutschlands. Die Innenstadt ist berühmt für ihre Barockbauten, die vor allem auf die Regierungszeit Augusts des Starken (1694–1733) zurückgehen.

Als Till im Februar 1988 nach Dresden kam, dachte er mit Grauen an jenen 13. Februar 1945, an dem das »Elbflorenz«, die prachtvolle sächische Residenzstadt, in Schutt und Asche fiel und Zehntausende hier verbrannten.

In der Innenstadt gab es 1988 fast kein altes Haus. Auf der Außenmauer der Ruine der Frauenkirche waren Kerzenreste zu sehen, die von einer – möglicherweise inoffiziellen – Gedenkfeier am Jahrestag stammten. Ein halbrunder und ein eckiger Torso mit großen, leeren Fensterbögen, dazwischen ein riesiger bemooster Steinhaufen; Zeugnisse der Nacht des Infernos, als die »Bomben auf Engeland« mit zehnfacher Wucht zurückkamen.

Till war mit einer Gruppe Studentinnen und Studenten aus Baden-Württemberg unterwegs, die, organisiert vom Marxistischen Studentenbund Spartakus, zur Exkursion ins »Tal der Ahnungslosen« aufgebrochen waren. So der DDR-interne Spottname für Dresden und Umgebung, darauf anspielend, dass man dort das Westfernsehen nicht empfangen konnte. Als die Gruppe mit dem Bus von Nordwesten her in die Stadt hineinfuhr, war der erste Eindruck ziemlich trostlos: große Fabriken und graubraune Mietskasernen mit bröckelndem Putz säumten die holprige Meißner und Hamburger Straße.

Im Zentrum war ein Teil der alten Pracht wiederentstanden: Der berühmte Zwinger, das ausgedehnte Schmuckstück des sächsischen Königsbarock, dessen Wiederaufbau schon 1945 in der Sowjetischen Zone begann und sich bis 1963 hinzog. Die erst zwei Jahre zuvor eingeweihte Semperoper, ein Wunderwerk der Imitation. Die Exkursion war mit einer der raren Führungen durch die Oper verbunden. Die Führerin begeisterte sich für die raffinierten Techniken, die Baumeister Gottfried Semper in den 1870er Jahren ersonnen hatte, um beispiels­weise künstlichen Marmor aus gefärbtem und poliertem Gips herzustellen. Beim Wiederaufbau in den 1980er Jahren hat man diese Techniken in mühsamer Kleinarbeit rekonstruiert und nachgemacht.

Das Deutsche Hygienemuseum feierte gerade seinen 75. Geburtstag und zeigte sich den neugierigen Wessis von seiner schönsten Seite. 1912 war es gegründet worden, um einen Beitrag für die Verbesserung der hygienischen Verhältnisse in den Arbeitervierteln der Großstädte zu leisten. Nun bildeten anschauliche Modelle der Biologie von Mensch und Tier, Exponate aus der Geschichte der Medizin und Schautafeln über aktuelle Probleme der Gesundheits­vorsorge den Schwerpunkt. In zwei lebensgroßen „gläsernen“ Modellen des Mannes und der Frau leuchteten auf Knopfdruck die Lungen blau, das Herz rot, der Magen gelb, der Dickdarm grün auf, und ein feines Geflecht von Adern und Nerven durchzog alle Körperteile. Till lachte: »Diese beiden haben wirklich Nerven aus Draht.«

»Muss man auch haben, wenn einem täglich Hunderte von Menschen überall reingucken«, erwiderte eine Studentin.

Außer dem gläsernen Menschen gab es eine gläserne Kuh und eine auf ein Meter Höhe vergrößerte gläserne Zelle, in der der Zellkern, die Mitochondrien und andere Organellen sich akkurat wie die Blumen in einem Blumenstrauß präsentieren. Aus dem Spielsaal, in dem Kinder im Spiel lernen konnten, wie faszinierend der menschliche Körper aufgebaut und beschaffen ist, drangen die akustischen Manifestationen fröhlichen Lebens.

Der Arbeiter, die Rentnerin und die moderne Kunst – diese Begegnung war auch in der späten DDR eine problematische. Im Albertinum war die X. Kunst­ausstellung der DDR zu sehen – die letzte ihrer Art –, und provozierte täglich solche Begegnungen. Man zeigte zeitgenössische Kunstwerke aus der DDR der letzten fünf Jahre, aber auch Architektur, Mode, Industriedesign, Grafik, Foto­grafie und Karikaturen. Till hatte den Eindruck, dass Bilder und Skulpturen sich erst in jüngerer Zeit aus den Fesseln des »sozialistischen Realismus« gelöst hatten; denn die meisten erschienen ihm recht konkret und angenehm leicht verständlich. Ein typisches, aber auch erschreckendes Beispiel war die 1984 entstandene raumgrei­fende Bronzeskulptur »Der Jahrhundertschritt« von Wolfgang Mattheuer, die das Foyer dominierte: ein Mensch, der fast nur aus zwei Armen und zwei Beinen besteht; der Kopf kaum zu sehen; der rechte Arm zum Hitlergruß erhoben, der linke zur soziali­stischen Arbeiterfaust; das rechte Bein gerade und meterweit nach vorne ausgrei­fend; das linke im Hakenkreuzwinkel, der Oberschenkel senkrecht nach unten, der Unterschenkel waagerecht nach hinten, der Fuß wieder senkrecht nach unten. Ein roter Längsstreifen kennzeichnet es als Standbein eines Generals. Dieser furchtbar lange Schritt nach vorn in die ungewisse Zukunft, ja: Till dachte unbehaglich an das krampfhafte Bemühen der Kommu­nisten, er spürte ihre Anstrengung und Überanstrengung bei dem Versuch, die Geschichte zu bezwingen. »Der große Sprung nach vorn« – so hatte Mao den aberwitzigen Plan genannt, mit tausenden von Dorfhochöfen China, das Land der Reisbauern, in fünf Jahren zum industriellen Schwergewicht zu machen. Dort war das andere Bein das Bauernbein. In der DDR, erkannte Till, war es das Nazibein gewesen, das sich mit allen Zehen im wilhelminischen Obrigkeitsstaat und im Raubmördertum des Russlandfeldzugs festkrallte, als die Kommunisten versuchten, der deutschen Nation ihren neuen Marsch zu blasen. Dass man die Figur auch als Sinnbild des Totalitarismus sehen konnte, fiel Till erst Jahre später auf.

Das Publikum in Dresden war zahlreich und in auffälliger Weise durch­schnittlich. Als die Westdeutschen sich wunderten, erläuterte Susi, eine Studentin aus Dresden:

»Viele kommen geschlossen mit ihrer Brigade aus dem jeweiligen Betrieb angereist.«

»Ah, der Sozialismus kommandiert die Menschen zur Kunst«, spottete ein bärtiger Schwabe.

Wie auch immer der rote Teppich zwischen Betriebstor und Museumsportal ausgestaltet war, er schien nicht zu bewirken, dass die zeitgenössische Kunst missmutig abgelatscht wurde. Die Besucherinnen und Besucher betrachteten alles aufmerksam, obwohl viele Schwierigkeiten zu haben schienen mit den mal grell­bunten, mal düsteren Farben, in die die Künstler Widersprüche und menschliches Elend zwischen Elbe und Oder gekleidet hatten. Vor dem Bild ## sagte ein älterer Betrachter in abfällig-weltklugem Ton: »Die malt doch nur so, damit sie auch im Westen ausgestellt wird.«

In einem der Säle herrschte ein Gedränge wie auf dem Weihnachtsmarkt.

»Gibt’s hier Dresdner Stollen?« fragte Till Susi hoffnungsvoll.

»Nee, hier gibt’s Schmunzelware: Karikaturen.«

Es dauerte einige Minuten, ehe Till zwischen Frisuren hindurch die bissigen Linien und naiven Farben erkennen konnte. Die »Bananenrepublik« etwa: Mitten im Umriss der DDR-Grenzen hockte ein fetter Berliner Bär, verdrückte genüsslich eine Banane nach der anderen und warf die leeren Schalen achtlos rüber in die Bezirke Schwerin, Potsdam, Magdeburg, Halle oder Dresden. Nach dem Berlinjahr 1987 war die begehrte und vermisste Krummfrucht ein gefundenes beziehungs­weise meist nicht gefundenes Fressen für geschundene sächsische Seelen. Eine Karikatur von Willy Moese spießte das zweite D der DDR auf: Ein Konferenztisch, dessen glatte Fläche nach allen Seiten in die senkrechten Fels­wände einer Elbsand­stein­nadel ausläuft. Die Konferenzteilnehmer hängen alle mit den Händen an der Kante, die Füße baumeln verzweifelt überm Abgrund. Der Vorsitzende, der als einziger auf einem Felsensessel sitzen darf, fragt in die Runde: »Wer dagegen ist, den bitte ich um das Handzeichen.«

Till, überrascht über die offene Kritik, stellte später fest, dass die Karikatur im Ausstellungskatalog fehlte.

Eine Diskussion zwischen den westdeutschen Studentinnen und -denten und ihren Dresdener Gastgeberinnen und -gebern an einem Mensatisch der Uni Dresden drehte sich um ein heikles Thema: die Welle an Ausreiseanträgen, die die DDR durchlief und in Atem hielt. Die Dresdener berichteten, dass es nirgends so viele Ausreiseanträge gab wie im Bezirk Dresden, also im »Tal der Ahnungslosen«.

Till wunderte sich:

»Das ist merkwürdig. Ausgerechnet hier, wo der lange Arm von Dallas und Dalli Dalli nicht  hinreicht, wollen so viele in den goldenen Westen? Ich dachte, es ist der diskrete Charme der Hollywood-Bourgeoisie, der die Leute anlockt.«

»Dalli Dalli gibt’s nicht mehr. Schon seit zwei Jahren«, wusste eine Schwäbin zu korrigieren.

»Ach so. Ich bin da nicht so auf dem Laufenden. Aber egal, ihr wisst, was ich meine.«

»Vielleicht wird der Westen sogar noch goldener, wenn man weniger Genaues darüber weiß«, vermutete einer der Stuttgarter. »Wenn man die Tagesschau sehen kann, erfährt man ja doch auch mal was über die Arbeitslosigkeit bei uns. Wenn aber hier nur die Aktuelle Kamera darüber berichtet, glauben die Leute vielleicht gar nicht, dass es im Westen Arbeitslose gibt.«

»Oder sie übernehmen die Spießerweisheiten, die wir kennen: Wer arbeiten will, findet auch Arbeit. Wer keine findet, ist arbeitsscheu und so weiter«, ergänzte Till.

Der FDJler Manfred grinste dazu und erklärte das Phänomen so:

»Wir denken, es hat etwas mit der Lebens­qualität zu tun. Es ist tatsächlich so, dass für viele unserer Bürger das Westfern­sehen einen wichtigen Teil des Feierabends darstellt. Unser Fernsehen versucht zwar auch einiges, die Leute zu unterhalten und bei Laune zu halten – aber so gut wie ARD und ZDF das machen, schaffen wir das nicht. Und wenn es das hier in Dresden nicht gibt, werden viele Leute unzufrieden. Wenn sie schon mal dabei sind zu meckern und sich alles schlecht zu reden, fällt ihnen schließlich ein, dass sie auch ganz ‘rübermachen könnten.«

»Was für ’ne schräge Dialektik!« philosophierte Till weiter. »Das Westfern­sehen, die Propagandamaschine schlechthin, hat die Aufgabe, die Leute im Kapita­lismus einzulullen, damit bloß keiner gegen Ausbeutung und Arbeitslosigkeit aufmuckt, und die Fetische der Warenwelt in ihren strahlendsten Farben schillern zu lassen. Aber diese einlullende Wirkung entfaltet es auch in der DDR und stabilisiert dort ungewollt den Arbeiter- und Bauernstaat.«

»Außer hier, im Tal der Ahnungslosen«, ergänzte Manfred.

Als ein Jahr später der Exodus der Ostdeutschen über Ungarn und Warschau die DDR endgültig auf die schiefe Ebene schob, fiel Till ein, dass die witzige Diskussion in Dresden um die Wirkung des Westfernsehens auf DDR-Bürger von der Frage abgelenkt hatte, womit die DDR selbst, aus eigener Kraft und Schwäche, die Zustimmung so vieler Menschen verspielt hatte.

»Zustimmung? Die hat sie nie besessen«, ätzte der Mann mit der schwarzen Nase.

An einem anderen Tag sprach Till Manfred direkt an:

»Sag mal, was hältst du von #Gorbatschow und seiner #Perestroika?«

Manfred zögerte, dann sagte er – und Till glaubte, ein leises Seufzen in seiner Stimme zu hören:

»Ich bewundere seinen Mut. Vieles, was er anpackt, war so lange überfällig. Aber ich fürchte auch, dass er zu weit gehen könnte und der Sowjetunion zu viel auf einmal zumuten, und dass er das große Erbe der Oktoberrevolution aufs Spiel setzt.«

»Ich bin ziemlich begeistert von ihm«, sagte Till. »Für mich war #Kommu­nis­mus immer eine höhere Form von Demokratie. Mit Gorbatschow wird das auf einmal greifbar und konkret. Wann kommt die Perestroika hier in der DDR an und mischt die autoritären Verhältnisse hier ein bisschen auf?«

Manfred lächelte etwas gequält:

»Da tut sich bereits einiges. Aber unsere großen Freunde haben einfach mehr Spielraum für eine Umgestaltung und für offene Kritik. Die DDR steht, wie du weißt, an der Front des Systemwiderspruchs. Alles, was wir hier offen zugeben an Fehlern, das kriegen wir am nächsten Tag von Bild und Tagesschau und Kennzeichen D in doppelter und dreifacher Vergrößerung und Verzerrung aufs Butterbrot geschmiert. Dass sich die Genossen da ziemlich genau überlegen, was sie kritisieren, das kann ich gut verstehen. Allerdings müssen die sowjetischen Genossen auch gut aufpassen, wie gesagt…«

»Du meinst, der Laden kann denen auseinander fliegen? Denkst du, die SU ist so instabil?«

»Das Problem da sind die vielen Nationalitäten. Wir haben ja in Polen erlebt, was passiert, wenn eine nationalistische Sicht und nationale Interessen die Oberhand gewinnen. Die Solidarität der Nationalitäten, der Sowjetrepubliken kann tatsächlich auseinder fliegen. Und was ich mit dem Erbe der Oktoberrevolution meinte, das ist noch was anderes, das ist der Enthusiasmus. Der Aufbau des Sozialismus erfordert so viel Kraft von so vielen Leuten – das ist nur mit Enthusiasmus hinzu­kriegen. Wenn aber ständig alles kritisiert wird, was schon da ist, was man schon geschaffen hat, dann ziehen sich die Leute eher zurück und warten ab, statt selber was anzupacken. An dieser Front hat Gorbatschow gerade arg zu kämpfen.«

»Gorbatschow hat letztes Jahr, wegen dem Jubiläum, ja auch kräftig den Geist der Oktoberrevolution beschworen. Ich habe seine Rede dazu in der U Zet[1] gelesen. Da versucht er, den Wind der Oktoberrevolution neu zu entfachen und in seine Perestroika-Segel zu lenken. Also gerade den Aufbruch, das Selber-Anpacken.«

»Ich hoffe ja auch, dass ihm das gelingt, aber viele sind skeptisch. Zu denen, die da sehr abwartend sind, gehört auch unser Genosse Erster Sekretär. Es kann leider sein, dass die Produktion in der Sowjetunion, die Gorbatschow mit neuen Markt-Metho­den steigern will, runtergeht statt rauf. Das würde den Skeptikern Recht geben – zumindest würden die es so deuten.«

»Du meinst die ewigen Stalinisten, die dann sagen können: Das haben wir doch gleich gesagt – Sozialismus ohne Knute, das taugt nix.«

Manfred nutzte das Hinzutreten einer FDJ-Kollegin dazu, das Geplänkel an dieser Stelle abzubrechen. Die beiden besprachen sich über die angekündigte Abendveranstaltung: Ein Kernphysiker sollte über ein weiteres heikles Thema sprechen – die Atomkraftwerke in der DDR.

Der Hörsaal war voll, als der Physiker auftrat – im Publikum saßen Till und die sechzehn Studentinnen und -ten aus Baden-Württemberg. Der Physiker betonte die dank umfassender und volkseigener Planung und Lenkung über jeden Zweifel erhabene Sicherheit der Atomkraftwerke der DDR. Dass das ebenso umfassend und volkseigen geplante und gelenkte Atomkraftwerk von #Tschernobyl in Brand geraten und explodiert war, bereitete ihm argumentative Probleme, zumal er auch nicht so direkt über russische Schlamperei herziehen wollte. Er war nicht zu beneiden bei seinem Eiertanz, doch die Krone setzte er seinen Pirouetten auf, als er allen Ernstes rechtfertigte, dass die Staatsführung der DDR die Bevölkerung der DDR über die Daten der radioaktiven Belastung nach der Katastrophe im Unklaren ließ.

»Die Menschen im Lande«, so dozierte der in diesem Moment hörbar berittene Herr Wissenschaftler, »hätten diese Daten sowieso nicht verstanden.«

Till war einen Moment lang fassungslos.

Da sah er, wie drei Rehen vor ihm ein Mann im Blauhemd aufstand und sich zu Wort meldete – Till erkannte Manfreds krause Haare. Der Dresdener FDJ-Funktionär sagte mit angespannter Stimme:

»Wie können Sie so über demokratische Prinzipien der DDR hinweggehen? Die Bürger der DDR sollen bei so gravierenden Vorfällen in Unwissenheit und Unmündigkeit gehalten werden!?«

Darauf wusste der Schlipsträger am Pult nichts Substanzielles mehr zu erwidern. Till hatte das deutliche Gefühl, mitten in einem Wind zu stehen, der sich gerade drehte.

Auf der Rückfahrt im Bus hörte Till zwei Studentinnen aus Heidelberg zu, die hinter ihm saßen. Die jüngere erzählte von einer Begegnung mit einer Dresdener Kommilitonin:

»Hast du das mitgekriegt? Die FDJ-Studentin, die links neben dir saß… Wie die erzählt hat, wie sie sich von einer offiziellen Kundgebung gedrückt hat?«

»Nee, hab ich nicht mitbekommen. Was denn für ’ne Kundgebung?«

»Weiß auch nicht genau. Dass die DDR ein Land des Friedens ist oder so. Sie jedenfalls war nicht dabei, obwohl eigentlich die ganze FDJ der Uni dort antreten musste. Sie hatte keine Lust dazu und hat sich irgendo versteckt oder so, als alle zusammengetrommelt wurden.«

»Ja, und? Ich hab auch schon mal eine Demo geschwänzt,  die eigentlich wichtig war. Sowas passiert halt.«

»Ja, klar. Aber wie sie mir das erzählt hat, war sie richtig stolz darauf. Und dass sie mir das überhaupt erzählt! Die sollen doch uns gegenüber als vorbildliche Aktivisten auftreten. Ich meine diese Doppelmoral. Was die offiziell darstellen müssen, und was die privat meinen und tun, das passt nicht zusammen. Das hat schon was von Betrug, finde ich.«

»Betrug? Ist das nicht eine Nummer zu groß? Wie gesagt, Anspruch und Wirklichkeit, das sind halt bei den meisten Menschen verschiedene Dinge. Warum sollte das in der DDR anders sein?«

»Mich hat dieser Stolz irritiert. Sie ist stolz darauf, dass sie sich das jetzt getraut hat. Früher hat sie sich sowas anscheinend nicht getraut. Und das bei einer von diesen Muster-FDJlern.«

Till hatte den Eindruck, die westdeutsche Linke war ein wenig enttäuscht darüber, dass man sich auf Linientreue und Kampfmoral von FDJlern offenbar nicht mehr verlassen konnte. Der Stolz der FDJ-Studentin schien von ähnlicher Qualität zu sein wie der Stolz eines Kollegen seines Vaters, der es mal wieder geschafft hatte, mit einer Trickserei das Finanzamt um 500 DM Steuereinnahmen zu bringen.


[1]       UZ – Unsere Zeit, die Tageszeitung der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), bestand als Tageszeitung 1973-1989.

Teil des Romanprojekts »Vorwarnzeit«

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