Trost

Der Trost (Birke Korff 1986)

Trost ist ein Zwitterwesen: einerseits ein individuelles Gefühl, andererseits eine Kommunikationsform zwischen Menschen. Man kann Trost finden, und man kann Trost spenden. Das Verb »finden« deutet an, dass Trost einer anderen Gefühlskategorie angehört als zum Beispiel Freude oder Ärger. Freude findet man nicht, sie erfüllt einen, so wie eine Rosenduft, den man einatmet. Ärger findet man nicht, sondern man gerät in ihn hinein, so wie man in einen Sumpf hineingerät. Trost also findet man, so wie man auf einer Almwiese eine Lilie findet.

»Der Trost« ist zudem eine Skulptur, die meine Schwester Birke Korff 1986 zum Abschluss ihres Kunststudiums an der RWTH Aachen geschaffen hat. Es bietet sich an, diese Skulptur anzuschauen, wenn man mehr über jenes Zwitter-wesen erfahren will.


Der Trost ist nur wenig kleiner als ich und vermutlich deutlich schwerer (ich bin 1,81 Meter groß und 60 Kilogramm schwer). Er dürfte etwa so groß sein wie meine Schwester, die Bildhauerin.

Der Trost besteht aus einem Eichenstamm und zwei Personen, einer Frau und einem Mann. Jene romantische Idee, dass die Form einer Skulptur bereits im Stein oder im Stamm drin steckt und der Bildhauer sie lediglich befreit, hat im »Trost« meiner Schwester ein Denkmal gefunden. Allerdings kann man im Haus der Bildhauerin auch das finden, das gegen diese Idee spricht: jene kleinen Modelle aus Ton, in denen sie ihre Idee vorab skizziert hat, und die zuvor nirgendwo drin steckten, nur in ihrem Kopf. Und die Anhänger der Idee könnten erwidern, dass die Bildhauerin die Figur zunächst im Innern des Eichenstamms erzeugt hat, bevor sie sie heraushauen konnte.

Im unteren Drittel sehen wir immer noch den runden Eichenstamm. Aus ihm heraus wachsen eine stehende Frau und ein sitzender Mann. Die Beine der Frau, die Beine des Mannes und der Schemel, auf dem der Mann sitzt: Sie alle stecken noch ganz oder teilweise im Stamm.

Der Kopf der Frau ist leicht nach vorne geneigt. Er zieht zunächst meine Blicke auf sich, weil er sich in meiner Augenhöhe befindet, und weil er ein Gesicht hat. Eine lange, schmale, kantig hervortretende Nase, die nach unten weist und die Neigung des Gesichts deutlich anzeigt. Sie verbreitert sich nach oben zur Stirn. Die Augen liegen im Schatten unter der scharfen Kante der Augenbrauen-Linie. Auch am unteren Ende verbreitert sich die Nase ein wenig, und darunter müsste der Mund sein. Dort ist allerdings nur eine gewölbte Fläche, auf der ich gedanklich einen schmalen, ernsten Mund ergänze. Die Lippen sind zwar geschlossen, aber keineswegs schweigsam; das Echo des Wortes, das sie eben gesprochen haben, und der Klang der Stimme der Frau hängen noch im Raum.
Die langen Haare der Frau sind nach hinten gekämmt. Ihr Hals und ihre Schultern sind kräftig und entlassen zwei ebenso kräftige Arme, die den Mann bergend umfassen. Die rechte Hand liegt im Nacken des Mannes, die linke auf seinem Kopf. Die Hände der Frau sind groß, wirken kräftig, arbeitsam und warm, verstärkt durch die dunkle Eichenholzfarbe. Geborgenheit macht einen großen Teil des Trostes aus. Die Finger sind rinnenartig gestaltet, also eigentlich als Negativform. Auch ein Arm ist teilweise seltsam konkav geformt – nach einem Vorbild des litauischen Expressionisten Jacques Lipschitz.
Vom Mann sieht man nicht viel: einen großen, gekrümmten Rücken, einen nach vorne gebeugten Hinterkopf; der Nacken ist von der rechten Hand der Frau verdeckt. Seine Arme umfassen den Rücken der Frau etwas unterhalb der Taille. Sie sind seltsam konkav geformt, rinnenartig, ähnlich wie die Finger der Frau. Seine verschränkten Hände sind nur angedeutet. Als Trostobjekt spielt er eindeutig eine sekundäre Rolle in der Skulptur. Da wir sein Gesicht nicht sehen, haben wir auch keine Hinweise auf den Grund, der ihn verzweifeln und Trost suchen ließ. Wenn ich an die korrespondierenden Mütter-Skulpturen oder -Zeichnungen von Käthe Kollwitz denke, bietet sich als mögliche Erklärung der Krieg an: ein Gestellungsbefehl vielleicht oder ein Kriegserlebnis.

Der Zwittercharakter des Trostes findet hier seinen Ausdruck im Zwitter-charakter des Holzes. Die Figuren von Frau und Mann stehen für den Trost als zwischen¬menschliches Ereignis: das Wort, das vorhin aus ihrem Munde kam; die Wärme, die von ihren Händen ausgeht; die Ergebenheit, mit der er sich ihrer Umarmung hingibt. Doch auch der Trost, den ich als einzelner Mensch in der Natur finden kann, zum Beispiel im Schatten einer Eiche, ist in der Skulptur präsent – eben in der starken Präsenz der Eiche, aus der sie entstand. Sie ist da als Stamm, aus dem heraus die beiden Figuren wachsen; sie ist da in der warmen Farbe, in der rauhen Oberfläche, in den sichtbaren Holzfasern und Jahresringen, und am augenfälligsten vielleicht in den klaffenden Spalten, die die Zeit ins Holz gerissen hat.

Zeit wird es auch, über Frauen- und Männerrollen zu sprechen. In jenem versunkenen Zeitalter, aus dem die Skulptur stammt, war es vielerorts noch üblich, solche Begriffe zu verwenden. Das soziologische Abstraktum »Gender« führte noch eine exotische Randexistenz. Die Rollen sind jedenfalls in Birkes Skulptur offensichtlich umgekehrt. Auf traditionellen Hochzeitsfotos sehen wir einen stehenden Mann hinter der sitzenden Frau. Auch Kay und Frieda, die beiden lebensgroßen Porträtstudien aus Gips, die Birke während ihres Studiums schuf und die bis heute im Hause der Eltern stehen, nur wenige Meter vom Trost entfernt – auch sie fügen sich in die traditionellen Rollen: Kay steht, groß, lässig, bekleidet, frontal den Betrachter ins Auge fassend; und Frieda sitzt auf einem Stuhl, nackt, verletzlich, in sich gekehrt, fast verschämt. Und hier nun steht die Frau, der Mann sitzt, und, revo¬lutionärer noch: Er verbirgt dem Betrachter sein Gesicht, während die Frau das ihrige zeigt. Wahrscheinlich weint er. Es ist also nicht nur das Trostwort der Frau, dessen Echo noch im Raum hängt, sondern davor noch etwas viel Verstörenderes: das Schluchzen eines Mannes. Der Mann, Sinnbild der Stärke, der Aktivität, der Entschlossenheit, hier aber gezeigt im Moment seiner größten Schwäche. Die Empathie der Frau, die ihr sonst oft als Schwäche ausgelegt wird, hier gezeigt im Moment ihrer größten Stärke.

Der Trost erinnert an ein altes, gotisches Sujet der Bildhauerei: die Pietà. Maria betrauert ihren toten Sohn, dessen Leiche auf ihren Knien liegt. Auch bei der Pietà dominiert der Gesichtsausdruck der Frau – besonders deutlich bei Michelangelos berühmter Figur im Petersdom. Das Gesicht des auf dem Rücken liegenden Jesus ist nach oben gewandt und aus dem Blickwinkel des frontalen Betrachters kaum zu sehen. Aber man sieht, dass es da ist – und der Mann ist tot. Die Frau dominiert zwar über dem toten Mann, aber sie sitzt, wie sich das gehörte. Beim Trost steht sie, und der Mann lebt, zum Glück. Das ist, vor dem Hintergrund der mir bekannten Kunstgeschichte, ein starkes Stück.

Als alter Tabuspürhund wittere ich gleich den Tabubruch. Ein Nachtrag der Kunsthistorikerin Gerlinde Volland bestätigt das: Ihr ist dazu Camille Claudels Figurengruppe »L’abandon« (»Die Hingabe«) eingefallen. In der Tat, auch da steht die Frau über dem Mann. Beide nackt, er hat sich vor ihr hingekniet und legt den Kopf in den Nacken, sie steht vor ihm und beugt ihren Kopf zu ihm hinunter: die erotische Hingabe eines Mannes an seine Geliebte. (Möglicherweise fleht er sie auch an, ihn nicht zu verlassen. L’abandon heißt nämlich auch »die Verlassenheit«.) Ein Tabubruch, den wohl nur eine Frau gestalten konnte – und die wurde bald darauf ins Irrenhaus eingewiesen. Unter Männern ziemt es sich nicht, Männer in einem solchen Zustand zu verewigen. Um so mehr Grund, dass Frauen Bilder hauen.

Jens Jürgen Korff
November 2011

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