Der hilfsbereite Mensch: Gastfreundschaft

Statue einer Reisenden vor dem Bahnhof Maladzechna in Belorus

Der heilige Gast – ein Kapitel im Buchprojekt Der hilfsbereite Mensch.

Wenn einer eine Reise tut, kann er was erzählen – vorausgesetzt, er hat die Reise überlebt. Selbstverständlich ist das nicht, denn Fremdlinge sind im anderen Land praktisch schutzlos. Doch schon im antiken Griechenland sind Menschen in friedlicher Absicht von Stadt zu Stadt gereist und haben Menschen in anderen Städten besucht. Es war gefährlich, die Schutzgemeinschaft des Heimatortes zu verlassen und sich alleine in die Fremde zu wagen, aber oft waren Neugier und der Drang, neue Handelspartner oder ein neues Publikum zu finden, stärker, oder die Reisenden waren gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Die meisten haben es überlebt, und inzwischen ist Tourismus eines der größten Gewerbe der Welt. Doch in den Komplex der Gastfreundschaft gehören auch die heiß umstrittenen Fragen, welche Fremden man in seinem Haus, etwa dem europäischen, willkommen heißen soll, und wie Gäste sich im fremden Haus benehmen sollen. Der Athener Philosoph Platon war um 360 v. Chr. einer der ersten, der sich genauer über das Verhältnis von Einheimischen und Fremden, von Gastgebern und Gästen geäußert hat. Dabei waren sogleich die Götter im Spiel.

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Platon hat in seinen literarisch gestalteten Dialogen die Art, wie sein Lehrer Sokrates seine Gedanken im Gespräch entwickelte, meisterhaft fest­gehalten und gestaltet. Die Forscher gehen davon aus, dass er in einigen dieser Dialoge der Figur des Sokrates gerne seine eigenen philoso­phischen Gedanken in den Mund gelegt hat – darunter auch die drei berühmten Gleichnisse, das Sonnengleichnis, das Liniengleichnis und das Höhlengleichnis.

In seinem Werk »Nomoi« (»Gesetze«) ließ Platon einen der drei fiktiven Gesprächspartner, den »Athener«, auf das göttliche Gebot der Gastfreundschaft eingehen:

Sodann bedenke man, dass die Pflichten gegen Gastfreunde und Fremdlinge hochheilige sind. Denn sie und die Vergehen gegen sie stehen fast alle noch mehr als die Verhältnisse zu unseren Mitbürgern unter der strafenden Obhut der Gottheit, weil man in der Fremde ohne den Schutz von Freunden und Verwandten und darum ein Gegenstand größeren Mitleids für Menschen und Götter ist. Wer aber mächtiger ist zu strafen, der ist auch bereitwilliger zu helfen, und jene Macht nun besitzen in hohem Grade die gastlichen Dämonen und Götter, welche zum Gefolge des gastlichen Zeus gehören… Kein größeres Vergehen gegen Fremde wie gegen Einheimische aber gibt es als eine Versündigung gegen Schutzflehende. Denn der Gott, welchen der Schutzflehende zum Zeugen der Zusagen nahm, hütet und wacht in hohem Maße darüber, was demselben begegnet, und was ihm daher auch Übles widerfährt; es wird ihm niemals der Rächer fehlen.

Dieses Gebot umfasste auch eine Art Asylrecht. Wer aus seiner Heimatstadt verbannt wurde und als Fremdling in ein anderes Land kam, war einerseits besonders gefährdet, da er kein eigenes Haus und keine Angehörigen hatte, die ihn hätten schützen können. Andererseits stand er nach den religiösen Geboten der Griechen und vieler anderer Völker gerade deshalb unter einem besonderen Schutz der Götter. Wer die Schwäche des Fremdlings ausnutzte und ihn ausraubte oder tötete oder ihm auch nur das dringend benötigte Obdach verweigerte, der musste, so glaubte man, mit göttlichen Strafen rechnen. Die Gastgeber fühlten sich sogar verpflichtet, ihren Gast gegen Angreifer zu verteidigen. Allerdings waren diese Pflichten in der Regel zeitlich begrenzt.


Auch im Alten Testament, im Tanach des Judentums, kommt das Thema vor, namentlich in der Szene, in der Abraham drei Fremde gastlich bewirtet, die sich später als göttlicher Besuch entpuppen:

Der Herr erschien Abraham bei den Eichen von Mamre. Abraham saß zur Zeit der Mittags­hitze am Zelteingang. Er blickte auf und sah vor sich drei Männer stehen. Als er sie sah, lief er ihnen vom Zelteingang aus entgegen, warf sich zur Erde nieder und sagte: Mein Herr, wenn ich dein Wohlwollen gefunden habe, geh doch an deinem Knecht nicht vorbei! Man wird etwas Wasser holen; dann könnt ihr euch die Füße waschen und euch unter dem Baum ausruhen. Ich will einen Bissen Brot holen und ihr könnt dann nach einer kleinen Stärkung weitergehen; denn deshalb seid ihr doch bei eurem Knecht vorbeigekommen. Sie erwiderten: Tu, wie du gesagt hast.

Es blieb nicht beim Brot, Abraham ließ ein Kalb für die Gäste schlachten und Kuchen backen – zum Glück hatte er Knechte zur Verfügung; seine Frau Sara kümmerte sich um den Kuchen. Nach dem Essen verwandelten sich die drei Gäste in den Herrn persönlich, und dieser verkündete Abraham und Sara, sie würden innerhalb eines Jahres einen Sohn bekommen. Alsbald begab sich der Herr, wieder in Gestalt der drei Männer, nach Sodom, um die als sittenlos verrufene Stadt mitsamt ihrer Bewohner zu vernichten. Da Abraham für die vielleicht fünfzig, vielleicht zehn Gerechten, die man in Sodom finden könne, eintrat, ließ sich der Herr auf ein Experiment ein und schickte zunächst seine beiden Engel nach Sodom, um die dortige Handhabung des Gastrechts zu testen. Sie wurden von Lot gastlich empfangen und aufgenommen. Als nun böse Nachbarn in der Nacht das Haus Lots belagerten und die Herausgabe der Fremden verlangten, sah sich Lot genötigt, dem Mob zwei seiner jungfräulichen Töchter zur freien Verfügung anzubieten, wenn sie im Gegen­zug seine heiligen Gäste in Frieden ließen. Dazu kam es dann doch nicht, denn die Engel des Herrn ließen die Angreifer erblinden.


Der römische Dichter Ovid (Publius Ovidius Naso) erzählte um die Zeitenwende im 8. Buch der »Metamorphosen« die Geschichte von Philemon und Baucis,[1] die große Ähnlichkeit hat mit der Geschichte von Abraham in Mamre und von Lot in Sodom. Göttervater Zeus war mit seinem Begleiter Hermes in sumpfigem Gelände in Phokis auf der Suche nach einer Herberge. Als sie eine Stadt erreichten, wiesen alle Bewohner, bei denen sie anklopften, die in Menschengestalt daherkom­menden Götter ab – nur ein armes, sehr altes Paar, Philemon und Baucis, öffnete den Fremden seine bescheidene Hütte am Stadtrand, schürte das Feuer im Herd, breitete Decken für ein Lager aus, unterhielt die Gäste und tischte ihnen ein Gastmahl auf, dessen Leckerbissen Ovid genießerisch aufzählt:

Oliven der keuschen Minerva, doppelgefärbte, dann herbstliche Kornelkirschen, in flüss’ge Hefe gelegt, Endivien und Rettich, Käse und Eier, die man nur leicht in nicht mehr glühender Asche gewendet, alles in irdnen Gefäßen… Trägt man ein wenig beiseite: der Nachtisch erhält seine Stelle. Da gibt‘s Nüsse und Feigen, vermischt mit runzligen Datteln, Pflaumen sind da und duftende Äpfel, gebettet in weiten Körbchen, und Trauben, von purpurnen Reben gepflückt; in der Mitte prangt eine glänzende Wabe von Honig. Zu allem gesellen freundliche Mienen sich bei und ein guter, nicht geizender Wille.

Als der Weinkrug nicht zur Neige gehen wollte und sich immer neu füllte, bemerkten die beiden Alten das Wunder und erkannten Götter in ihren Gästen. Zeus bat seine Gastgeber, mit den Gästen die Hütte zu verlassen, denn der ganze Ort mit seinen Bewohnern sollte zur Strafe für die Abweisung der beiden Fremden im Sumpf versinken, mit Ausnahme der Hütte der beiden gastfreundlichen Alten. Diese verwandelte sich in einen Tempel, in dem Philemon und Baucis bis zu ihrem Lebensende Dienst tun durften. Wie sie sich das gewünscht hatten, starben die Alten gleichzeitig, während sie auf den Tempelstufen saßen und sich liebevoll unterhielten, und verwandelten sich in eine Eiche und eine Linde, die weiterhin  beieinander standen.

Misanthropen mögen einwenden, dass sowohl in Sodom als auch in Phokis die ungastlichen Menschen nach der Überlieferung in der Mehrheit waren. Doch Menschenfreunde können kontern: Wenn Gott oder die Götter die kulturelle Selektion repräsentieren, dann wurden die Ungastlichen peu à peu ausgerottet (Sodom!), und die Gastlichen blieben übrig. Wer der Meinung ist, dass Religionen die Menschen nur in die Irre geführt haben, stößt hier auf ein markantes Gegenbeispiel: die Idee göttlicher Gebote, die eine so vernunftgeleitete Tätigkeit wie das Reisen überhaupt erst möglich gemacht haben. Es bleibt allerdings als Abgrund des Gastrechts das schreckliche Angebot Lots an die Bela­gerer, ihnen seine Töchter zur gefälligen Vergewaltigung auszuliefern, wenn sie seine Gäste verschonten.

Auch später haben Dichter und Schriftsteller gerne die Verpflichtungen von Gastfreund und Gast und die göttliche Rache an Schändern des Gastrechts gestaltet: so Friedrich Schiller in der Ballade »Die Kraniche des Ibykus«, Conrad Ferdinand Meyer in der Ballade »Die Füße im Feuer« oder Albert Camus in der Erzählung »Der Gast«.  Der Schweizer Meyer lebte von 1825 bis 1898 in Zürich. Seine Ballade erschien 1882 und spielt in der Zeit der Hugenottenkriege in Frank­reich (1562–1598). Ein Kurier des Königs sucht während eines Unwetters Schutz in einem Schloss, das am Wege steht. Man nimmt ihn gastlich auf, doch beim Anblick des Kaminfeuers erinnert sich der Gast plötzlich daran zurück, wie er genau dort einst im Krieg die Frau des Schlossherrn zu Tode gefoltert hatte: Er hatte ihre Füße ins Feuer gehalten. Der schweigsame Schlossherr lässt sich nichts anmerken. In seinem Schlafgemach wird der Kurier von Bildern der zuckenden Füße im Feuer verfolgt. Er weiß nicht, ob der Schlossherr ihn erkannt hat, und schließt sich ein. Am anderen Morgen tritt der Schlossherr durch eine verborgene Tür ein; er hätte seinen Gast also leicht angreifen können. Sein braunes Haar ist über Nacht ergraut. Er begleitet den Kurier noch ein Stück, dieser verabschiedet sich mit dem Lob, dass der Schlossherr dem Mann des Königs gegenüber beson­nen geblieben sei. Der Schlossherr erwidert:

„Du sagst’s! Dem größten König eigen! Heute ward
Sein Dienst mir schwer … Gemordet hast du teuflisch mir
Mein Weib! Und lebst … Mein ist die Rache, redet Gott.“


Der französische Philosoph Jacques Derrida (1930–2004) beschäftigte sich 2002, im Jahr nach dem Massenmord von Manhattan, mit der Gastfreundschaft. Er meinte damit vor allem den Umgang der Staaten mit Migrantinnen, Migranten und Flüchtlingen, bezog sich aber auch darauf, dass sich der Rahmen der Gastfreundschaft verschiebt, wenn die Telekommu­nikation der Menschen die Grenzen zwischen privatem und öffentlichem Leben durchlässig macht und in Frage stellt. Derrida beobachtete ein Paradox seiner Zeit:

Ich denke, die Globalisierung hat zu einer nationalistischen und fremdenfeindlichen Reaktion geführt. Dieser Umschlag hat seinen Grund in der erhöhten Bewegungsfreiheit – in der erleichterten Überquerung der Grenzen und im verbesserten Zugang zu den Kommunika­tionsnetzen. Dieser Zustand gilt seit dem Schengener Abkommen, das zwar die Liberalität im Inneren verbessert, aber auch die Repression nach außen verstärkt hat. Selbst im Inneren gibt es Menschen, die sogar vor der Bewegungsfreiheit von Europäern Angst haben.

Überall wo die Privatsphäre verletzt werde, könne eine Reaktion eintreten, die die eigene Familie, das eigene Volk, die eigene Nation ins Zentrum stelle. Die politischen Auswirkungen seien fatal:

Es ist keineswegs ungewöhnlich, dass diejenigen, die für die ökonomische Globalisierung – für eine Öffnung der Grenzen und eine bessere Zirkulation der Waren – eintreten, dieselben sind, die die Grenzen für die Immigranten schließen wollen. Die Liberalisierungen kommen also mit einer Einschränkung der Gastfreundschaft einher…

Bezogen auf Fremde, auf Migrantinnen und Migranten, unterschied Derrida zwischen zwei Formen der Gastfreundschaft:

Zunächst gibt es die reine, unbedingte Gastfreundschaft, was bedeutet, dass jeder unterschiedslos aufgenommen wird. Allerdings handelt es sich hierbei nicht um einen politischen Begriff. Schließlich gibt es die bedingte Gastfreundschaft, die eine politische und rechtliche Dimension hat. Sie besagt, dass die Grenzen unter bestimmten Bedingungen bestimmten Exilanten offen stehen. Als Recht kann sie so formuliert werden, dass sie nicht nur den gegebenen Gesetzen entspricht, sondern auch allgemeinen Verträgen, die die Emigranten und die politisch Verfolgten schützen.

Derrida forderte, die Verträge so zu ändern, dass Emigranten und politisch Verfolgte besser geschützt werden.

Unter bestimmten Gesichtspunkten muss ihnen erlaubt sein, während ihres Aufenthalts in dem Gastland, ihre Tradition, ihre Sprache, ihre Kultur und ihre Religion zu bewahren. Dieses schwierige Problem verlangt nach politischen Entscheidungen und nach einer politischen Verantwortlichkeit.

Derrida sah die damit verbundenen Probleme, die im zentralisierten Staat Frankreich mit seiner starken Tendenz, die Kultur im ganzen Land zu verein­heitlichen, noch deutlicher zu Tage treten als im föderalistischen Deutschland. Er plädierte aber für liberalere Regelungen zugunsten von Flüchtlingen im Sinne des traditionellen Gastrechts. 

Ein Gedanke zu „Der hilfsbereite Mensch: Gastfreundschaft“

  1. Hallo Jens, ich favorisiere auf jeden Fall die thematische Gliederung. Diese ist einfacher zu lesen und überschaubarer. Das Thema ist schon sehr anspruchsvoll. Deine andere Variante springt daher stark durch die Welt der Philosophen und macht das lesen-auch wegen der zahlreichen Zitate- für mich mühsamer. Diese Variante erinnert eher an eine wissenschaftliche Arbeit.
    Liebe Grüße Daggi

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