Jesus und Judas – wer hat wen verraten?

Am Karfreitag starb nicht nur Jesus von Nazareth am Kreuz, sondern auch Judas Iskariot am Baum. Da Jesus ihn als Verräter und Teufel beschimpft und dem Verräter den Untergang prophezeit hat, haben wir uns angewöhnt, diese Sichtweise zu übernehmen und den Stricktod des Judas als gerechte Strafe zu bewerten. Die Verräterfigur Judas wurde zum Bestandteil des christlich motivierten Antijudaismus. Mein Lieblings-Evangelist Tim Rice übernahm diese Vorurteile nicht und ließ in der Rockoper »Jesus Christ Superstar« Judas ausführlich selber zu Wort kommen.

Giotto Der Judaskuss

Am Karfreitag starb nicht nur Jesus von Nazareth am Kreuz, sondern auch Judas Iskariot am Baum. Da Jesus ihn als Verräter und Teufel beschimpft (Johannes 6, 70) und dem Verräter den Untergang prophezeit hat (Lukas 22, 22), haben wir uns angewöhnt, diese Sichtweise zu übernehmen und den Stricktod des Judas als gerechte Strafe zu bewerten. Die Verräterfigur Judas wurde zum Bestandteil des christlich motivierten Antijudaismus, des Hasses auf die Juden als »Gottesmörder« und Lumpen. Mein Lieblings-Evangelist Tim Rice übernahm diese Vorurteile nicht und ließ 1970 in der Rockoper »Jesus Christ Superstar« Judas ausführlich selber zu Wort kommen. Sehr schwierig wird es mit der Logik, wenn man annimmt, dass der Ablauf des Karfreitag vorbestimmt und von Gott so geplant war.

Das Beat-Evangelium von Tim Rice und Andrew Lloyd Webber beginnt sogar mit einem gesungenen Monolog des Judas, in dem der Mann in einer fiktiven Rede an den abwesenden Jesus seine Gründe erläutert, warum er auf Distanz geht: Er bewunderte Jesus als einen inspirierenden Menschen, beklagt sich jetzt über die Jesus-Fans, die zu viel Himmel im Kopf hätten, und sieht »this talk of God«, dieses Gerede über Gott, nur als einen propagandistischen Trick Jesu an, um die Massen zu gewinnen. Der Enthusiasmus der gläubigen Massen war ihm persönlich zuwider und politisch unheim­lich, weil er, ähnlich wie der Hohepriester Kajaphas, einen bewaffneten Konflikt mit den Römern fürchtete, in dem sie alle umkommen könnten. Aus Sorge um das Überleben der Gruppe beschloss er einzugreifen.

Das Hauptproblem besteht aber in dem Widerspruch zwischen Vorbestimmung und individueller Schuld: Jesus wies einerseits immer wieder darauf hin, dass das Schicksal des Menschensohns, also seiner menschlichen Gestalt, und offenbar auch die Entscheidungen aller Menschen, die unmittelbar damit zu tun hatten, von Gott vorbestimmt waren. Andererseits sah er dennoch eine individuelle Schuld der Beteiligten. So sagte er, als er Judas während des Abendmahls als Verräter entlarvte: »Denn der Menschensohn geht zwar dahin, wie es beschlossen ist; doch weh dem Menschen, durch den er verraten wird!« (Lukas 22, 22). Lukas macht es sich einfach und erklärt Judas‘ subjektive Entscheidung zum Verrat damit, dass der Satan in ihn gefahren sei (Lukas 22, 3). Diesen Joker kann man immer einsetzen, wenn einer aus der Reihe tanzt.

Der Evangelist Johannes berichtet von einer Spaltung unter Jesu Jüngern, die der Schlussepisode in Jerusalem vorausging und von dem gleichen Widerspruch ausgelöst wurde, den Judas in seinem Monolog in »Jesus Christ Superstar« anspricht. Als Jesus in einer Predigt in der Synagoge von Kapernaum sagte: »Denn ich bin vom Himmel gekommen, nicht damit ich meinen Willen tue, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat« (Johannes 6, 38), da gab es unter den Jüngern Widerspruch. Manche wandten ein: »Ist dieser nicht Jesus, Josefs Sohn, dessen Vater und Mutter wir kennen? Wieso spricht er dann: Ich bin vom Himmel gekommen?« (Joh. 6, 41f). Jesu Camouflage als Menschensohn warf also das Problem auf, dass er Jünger gewann, die zwar an ihn glaubten, aber nicht in seiner Eigenschaft als Gottessohn, sondern in seiner Eigenschaft als inspi­rierender Mensch. Damit hing ein weiterer Spaltungsgrund zusammen. Jesus predigte in Kapernaum, das letzte Abendmahl vorweg­nehmend: »Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel gekommen ist. Wer von diesem Brot isst, der wird leben in Ewigkeit. Und dieses Brot ist mein Fleisch, das ich geben werde für das Leben der Welt.« (Joh. 6, 51). Die Vorstellung, Jesu Fleisch zu essen, erregte bei einigen Jüngern Unwillen. Einige riefen: »Wie kann er uns sein Fleisch zu essen geben?« Im Streit spitzte Jesus sein Verdikt weiter zu, offenbar, um nun die Jünger los zu werden, die an ihn als Menschen glaubten und sich deshalb weigerten, sein Fleisch zu essen: »Wenn ihr nicht das Fleisch des Menschensohns esst und sein Blut trinkt, so habt ihr kein Leben in euch.« (Joh. 6, 53). Also nicht nur kein ewiges Leben, sondern überhaupt kein Leben. Vielleicht fiel es ihm durch diese Denunziation leichter, einen Teil seiner Jünger zu verstoßen – im Widerspruch zu einem Satz, den er kurz vorher gesagt hatte: »…wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen.« (Joh. 6, 37). Matthäus 11, 28 überliefert den berühmten Aufruf: »Kommt her zu mir, alle die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.« Jesus setzte im Streit mit opponierenden Jüngern die Zuspitzung fort und verknüpfte, zumindest in der Deutung durch den Evangelisten Johannes, den Unglauben an die göttliche Herkunft des Menschensohns mit dem Vorwurf des Verrats: »Aber es gibt einige unter euch, die glauben nicht. Denn Jesus wusste von Anfang an, wer die waren, die nicht glaubten, und wer ihn verraten würde.« (Joh. 6, 64). Nachdem ihn die Jünger verlassen hatten, die nicht das Fleisch ihres Propheten essen wollten, sprach Jesus die zwölf Apostel an: »Wollt ihr auch weggehen?« Petrus antwortete mit Nein, und Jesus erwiderte: »Habe ich nicht euch Zwölf erwählt? Und einer von euch ist ein Teufel.« (Joh. 6, 70). Hier deutet Johannes an, dass Jesus bewusst einen »Teufel« zum Apostel ernannt hat.

Tim Rice hat Judas in seiner Eingangsszene als einen von denen gedeutet, die sehr wohl an Jesus von Nazaret glaubten, nämlich an den inspirierenden Menschen und Menschenführer, der die Mühseligen und Beladenen ausdrücklich dazu aufgefordert hatte, ihm zu folgen. Judas hat demnach die Spaltung von Kapernaum nicht mitgemacht und ist bei Jesus geblieben, obwohl er ihn weiterhin für einen Menschen hielt. Diese Form des Glaubens, die sich folgerichtig aus Jesu Auftreten als Menschensohn entwickelte, wird in den Evangelien nicht reflektiert, aber wiederholt beschrieben und gelegentlich als teuflisch denunziert. Jesus spielte dieses Spiel ein weiteres Mal, als er am Palmsonntag seinen Einzug in Jerusalem wie den Triumphzug eines Königs inszenierte, aber gebrochen durch das Detail, dass er nicht auf einem Pferd in die Stadt ritt, sondern auf einem Esel. Genau das rührte offenbar viele Jerusalemer besonders stark an: Jesus schien zugleich ein König zu sein, also ein Erhöhter, und ein Hirt oder Bauer mit Esel, also ein Mann von unten. So sorgte Jesus dafür, dass erneut eine große Menschenmenge entstand, die ihn als König, also als Menschen verehrte, die an ihn glaubte, so wie man an einen König und sein Heil glaubt. Der jubelnden Stadt scheuderte er dann seine Klage über Jerusalem entgegen, die im Evangelium nach Rice die rätselhaften Worte enthält: »To conquer death, you only have to die« (»Um den Tod zu überwinden, musst du bloß sterben«). Bei Johannes spitzt Jesus diese lebensfeindliche Wendung noch stärker zu: »Wer sein Leben lieb hat, der wird’s verlieren; und wer sein Leben auf dieser Welt hasst, der wird’s erhalten zum ewigen Leben.« (Joh. 12, 25). An dieser Stelle scheiden sich die Geister: Wer wie ich das Leben heilig findet und verehrt, und zwar das auf dieser Welt, der wird von Jesus klar verstoßen. (Bei Lukas 17, 33 und Matthäus 10, 39 ist der Ausspruch weniger eindeutig formuliert, ohne das Wort »hassen«, also ohne eine Haltung zum irdischen Leben einzunehmen.)

Der Evangelist Johannes überliefert ein interessantes Detail über Judas: Er »hatte den Geldbeutel«, sprich: er war der Kassenwart der Gruppe (Joh. 12, 6 und 13, 29). Johannes verbindet die Information sogleich mit einer billigen Verleumdung: Judas habe gegen die Salbung Jesu durch eine Frau in Betanien prote­stiert, nicht um das gesparte Geld den Armen zu geben, wie er scheinheilig behauptete, sondern weil er als Kassenwart notorisch Geld unterschlagen habe: »er war ein Dieb, denn er hatte den Geldbeutel und nahm an sich, was gegeben war«. Offenbar konnte der Beobachter nicht unterscheiden zwischen Geld, das jemand treuhänderisch verwaltete, und Geld, das er privat einsackte. Oder sich nicht vorstellen, dass jemand diesen Dienst an der Gemeinschaft übernahm, ohne an seinen eigenen Vorteil zu denken. Rice deutet die Szene in Betanien viel stimmiger: Judas war schlicht eifersüchtig auf Jesus, weil dieser die Zärtlichkeiten einer schönen Frau genießen durfte und er selber leer ausging. Getrieben von Eifersucht wertete er die Frau als Hure ab (»that a man like you can waste his time / on women of her kind«). Eine typische Männerschwäche, aber kein Zeichen teuflischer Verderbnis.

Während des letzten Abendmahls benannte Jesus Judas als Verräter. Rice inszeniert die Szene als gehässiges Streitgespräch, bei dem sich Judas selbst outet, was über die biblischen Evangelien hinausgeht:

JESUS: One of you here dining, one of my twelve chosen / Will leave to betray me –

JUDAS: Cut out the dramatics! You know very well who –

JESUS: Why don’t you go do it?

JUDAS: You want me to do it!

JESUS: Hurry they are waiting.

JUDAS: If you knew why I do it…

JESUS: I don’t care why you do it!

JUDAS: To think I admired you / For now I despise you.

JESUS: You liar – you Judas!

JUDAS: You want me to do it! / What if I just stayed here / And ruined your ambition? / Christ you deserve it!

JESUS: Hurry you fool, hurry and go, / Save me your speeches, I don’t want to know ­– Go!

Hier setzen die sich betrinkenden Apostel mit ihrem trüben egozentrischen Singsang ein: (…) Then when we retire we can write the gospels / So they’ll all talk about us when we’ve died.

Judas ertränkt das Grauen seines Verrats in einer letzten Wutrede an den, den er ins Gefängnis zu schicken gedenkt: You sad pathetic man – see where you’ve brought us to… / Someone has to turn you in / Like a common criminal, like a wounded animal / A jaded mandarin / A jaded faded mandarin.

Gut beobachtet von Rice: der Mentalitäts- und Stilunterschied zwischen Jesus und Judas. Judas als Pragmatiker (Kassenwart, Organisator) kann das pathetische Brimborium nicht ausstehen, das Jesus so gerne verbreitet. Doch wichtiger: Judas spricht das logische Problem an, das die ganze Christus­geschichte belastet: »Du willst, dass ich es tue! Was wäre, wenn ich einfach hier bliebe und deinen Plan vereitelte?« Er merkt, dass Jesus das Ende seiner Laufbahn als Menschensohn inszeniert und dass er ihn, Judas, für die schmutzige Rolle des Verräters ausgesucht hat; hofft allerdings noch, dass Jesus mit dem Leben davonkommen werde. Wenn aber alles von ganz weit oben festgelegt ist, wie Jesus später im Verhör zu Pilatus sagt, also weder Judas noch Pilatus eine Chance haben, seinen Tod zu verhindern – warum halten Jesus und die Evangelisten dann an der Vorstellung einer individuellen Schuld des »Verräters Judas« und des Richters Pilatus fest? Das ist unlogisch. Mit einigem Recht kann Judas zu dem Schluss kommen, dass er von Jesus hereingelegt und missbraucht wurde, denn Jesus hat ihn gezielt ange­sprochen, ihm geschmeichelt und ihn in den Kreis der Apostel aufgenommen.

Unlogisch ist aber auch die ganze Trauer um den getöteten Christus, also das Karfreitags­ritual, denn es war doch der Plan von Gottvater und Jesussohn, dass Jesus sich auf Erden von Menschen töten lassen sollte, um durch dieses Opfer die Menschen zu prüfen und – wenn auch nur teilweise – zu erlösen. Und irgendwie ein Verrat an den Menschen, die an Jesus als Menschen glaubten und nun ihren Propheten oder Messias auf diese grausame Weise verloren.

April 2020

In seinem letzten Roman »Der Fall Judas« behandelte Walter Jens 1975 einen fiktiven Selig­sprechungsprozess für Judas Iskariot in der Form einer forensischen Fallstudie: „Ohne Judas kein Kreuz, ohne das Kreuz keine Erfüllung des Heilsplans. Keine Kirche ohne diesen Mann; keine Überlieferung ohne den Überlieferer.“ (Zitat S. 8)

Januar 2022

Luise Rinser bot 1983 in ihrem historischen Roman »Mirjam« eine andere Deutung der Judasrolle an. Sie sah ihn, dort Jehuda genannt, als geheimen Parteigänger der Zeloten, der militanten jüdischen Freiheitskämpfer, der versuchte, Jesus auf die Seite des bewaffneten Kampfes zu ziehen. (Ähnlich schon Rudolf Augstein in seiner Biographie »Jesus Menschensohn«, 1972.)

Gelesen im Mai 2023

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