Der historische Roman erzählt die Jesusgeschichte aus dem Blickwinkel von Mirjam (Maria von Magdala), die als Ich-Erzählerin auftritt und in Rückblicken ihre Lebensgeschichte erzählt, darin vor allem die drei Jahre, die sie als Jüngerin des Rabbis Jeschua (Jesus von Nazareth) verbracht hat. Die Autorin bietet dabei eine ungewöhnliche Deutung der Rolle des Judas (im Roman: Jehuda) an. Während sie erzählt, Jahrzehnte nach Jesu Kreuzigung, lebt sie als Einsiedlerin in einer Höhle.
Mirjam war die Tochter und Erbin eines reichen jüdischen Händlers. Sie hat schon in jungen Jahren eine zufällige Begegnung mit dem jungen Jeschua, der sie sofort fasziniert. Nach dem Tod ihres Vaters machte sie sich, begleitet von einer Sklavin, auf den Weg zu den Berghöhlen, in denen sich die Essener verborgen hielten, die Anhänger einer jüdischen Sekte, die das nahe Ende der Zeit erwarteten und die Menschen zur Buße aufriefen. Mirjam erlebte zufällig den Moment mit, an dem sich Jeschua vom Prediger Jochanan (Johannes dem Täufer) im Jordan taufen ließ. Jochanan erkannte dabei, dass Jeschua der Messias ist. Während Mirjam in einer Höhle übernachtete, versteckte sich dort eine Gruppe von jüdischen Zeloten (Freiheitskämpfern), die die Römerherrschaft gewaltsam abschütteln und jene Juden bestrafen wollten, die mit den Römern kooperierten. Einer von ihnen steckte Mirjam einen Dolch zu, um sie für den bewaffneten Guerillakampf zu gewinnen. Mirjam war beeindruckt davon, dass unter den Kriegern auch Frauen waren. Sie irrte dann wie eine Besessene umher und begegnete eines Tages in einem Hohlweg einer kleinen Gruppe Männer, darunter Jeschua. Sein Blick ließ sie in Ohnmacht sinken, und sie schlief drei Tage und Nächte, wachte wieder auf und fühlte sich leicht wie ein Grasbüschel. Sie glaubte später, dass Jeschua sie von ihrer Besessenheit geheilt habe.
Das Friedensmahl (56f)
Mirjam erzählt von ihrem ersten Abendessen mit Jeschua und seinen damals sechs Anhängern:
„Da kamen die anderen zurück, die Fische wurden gebraten, die Wildkräuter gegessen, das Quellwasser getrunken, ein Bauernmahl, ein Fischermahl. Doch fiel mir eines auf: ehe man zu essen begann, nahm der Rabbi den Brotfladen, teilte ihn in acht Teile und gab jedem von uns den Bissen auf die Hand. Eine einfache Geste, doch Bedeutung war darin und Feierlichkeit…
Schön war dieser erste Abend an der Feuerstätte. Voller Frieden. Als gäbe es weder Römer noch Aufständische, weder Herren noch Knechte, weder Reiche noch Arme, nicht Männer noch Frauen, nicht Gelehrte noch Ungelehrte, nur Brüder, und nichts als Frieden. Diesen Frieden also hatte der Rabbi zu bieten. / Für diesen einen Abend war das Friedensreich Wirklichkeit.“ (56f)
Die Gleichnisse Jeschuas (Jesu)
Jeschua erzählte: Der Bauer, der seine Körner zum Teil auf den Weg, auf den Fels, ins Dornicht und auf fruchtbaren Boden sät (84). Der Gastgeber, der erst Nachbarn zum Festmahl einlädt, die aber alle absagen, und dann Bettler von der Straße einlädt (85). Die Jünger erkannten, dass die Körner für Jeschuas Worte an die Menschen stehen, diskutierten aber kontrovers darüber, ob ein Bauer so dumm sein könne, sein Korn auf Fels oder ins Gestrüpp zu säen, oder ein Gastgeber so dumm, Leute einzuladen, deren Absagen absehbar waren. [Wobei alle Gleichnisse Jeschuas Geschichten erzählen, die physisch und logisch möglich sind.] Jeschua betonte oft, dass die Einwände der Jünger zu kurz gedacht seien: Es gebe nicht nur einen Erntesommer, sondern viele; kein Korn sei vergeblich gesät.
Jochanan (der Apostel Johannes) sagte in der Diskussion mit Mirjam: „Derjenige, der wieder schlägt, weiß nicht, dass er sich selber schlägt.“ (92) Mirjam hielt diesen Standpunkt für unrealistisch, weil die Gewaltherrschaft so nicht verschwinden könne. Doch später erkannte sie: „Der Rabbi wollte uns ein Bild vom Friedensreich geben: ein Friedensmahl, ein Liebesmahl.“ (96)
Die Schriftgelehrten stellten Jeschua eine Falle, indem sie ihn um ein Urteil über eine Ehebrecherin baten. Er sollte sich im Widerspruch verfangen, dass er einerseits die jüdischen Gesetze anerkannte, darunter die Todesstrafe durch Steinigung für Ehebrecherinnen, andererseits Liebe und Duldung als einzige Gebote predigte (102). Jeschua löste das Dilemma, indem er lange schwieg, die versammelten Steinewerfer und die Delinquentin warten ließ, und schließlich sagte: „Derjenige unter euch, ihr Männer, der ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein.“ Keiner tat es. Jeschua hatte dem jüdischen Gesetz Genüge getan und zugleich dafür gesorgt, dass das Urteil nicht vollstreckt wurde.
In einer Diskussion um das Recht zur Ehescheidung (105f) wies Jeschua darauf hin, dass die geschiedene Frau keine Chance mehr habe, einen neuen Mann zu bekommen, während der geschiedene Mann sich eine jüngere Frau nehmen könne. Die Schriftgelehrten argumentierten, keine Qual könne größer sein als die, die eine boshafte alte Ehefrau ihrem Ehemann bereite. Jeschua konterte mit der Frage, was in einem solchen Fall der Ehemann dazu beigetragen habe, dass seine Frau so boshaft wurde.
Jeschuas Bergpredigt (130-33)
Jeschua predigte der versammelten Menge: „Kein Herr wird mehr über euch sein und euch zu Unfreien machen. Die Schuldtürme öffnen sich die Schulden werden gelöscht. Der Herr umarmt den Knecht, und es wird fürder weder Herren noch Diener geben, weder Reiche noch Arme. Jeder wird haben, was er braucht… Ein jeder ist Bruder und Diener des andern.“ (131)
Nach der Bergpredigt wurde Jeschua von einer großen Menge Kranker überrannt, die geheilt werden wollten. Jehuda (Judas) kassierte insgeheim von den Reichen unter den Kranken eine Gebühr (135). Als Jeschua das bemerkte, entriss er Jehuda den Beutel und warf das Geld in die Menge. Die Menschen balgten sich um die Münzen. Jeschua kommentierte: „Was wollt ihr von mir? Heilung eurer Leiden? Dies ist euer Leiden: das Habenwollen!“
Einer schrie: „Sag das den Reichen! Wir haben doch nichts.“
Jeschua: „Rede ich vom Haben? Vom Haben-Wollen rede ich. Ihr habt nicht, doch wollt ihr haben, nichts als haben. Und hättet ihr, wär’s immer nicht genug. Reich oder arm: Alle seid ihr krank. Eure Wünsche sind krank, eure Seelen sind krank, darum sind eure Körper krank.“ (136)
Die Rolle Jehudas (Judas‘) und der beiden Volksmengen
Rinser alias Mirjam bietet eine ganz andere, geradezu entgegengesetzte Interpretation der Judasrolle an als Tim Rice in »Jesus Christ Superstar«. Rice sieht Judas als Reformisten, der eine Konfrontation mit den Hohenpriestern und der römischen Besatzungsmacht vermeiden wollte, um länger wohltätig bei den Armen und Kranken wirken zu können. Er sammelte Geld, um es an die Armen zu verteilen. Rinser sieht Jehuda (Judas) als getarnten Zeloten, als antirömischen Revolutionär, der insgeheim Geld sammelte, um die bewaffneten Aufständischen zu unterstützen. Doch wie konnte ein Revolutionär zum Verräter werden?
Es gehört zum Spannungsbogen des Buches, dass diese Frage bis zum Gründonnerstag ungeklärt bleibt. Wer es jetzt schon wissen will, dem sei es hier gesagt: Jehuda hoffte darauf, dass sich Jeschua am Palmsonntag in Jerusalem an die Spitze des Aufstands stellen würde. Er hatte den Aufmarsch der Jeschua-Anhänger vorab organisiert. Doch sein Plan scheiterte an zwei Stellen: Bar Abbas (der Räuber Barrabas), Anführer der bewaffneten Aufständischen, wurde kurz vorher verhaftet; und Jeschua rief die Menge weiterhin nicht zum Aufstand gegen die Römer auf. In seiner Not verfiel Jehuda auf eine List, die Jeschua zwingen sollte, sich zum Aufstand zu bekennen: Er sorgte dafür, dass Jeschua verhaftet wurde, und mobilisierte die Menge, die am Karfreitag dem öffentlichen Prozess bei Pilatus beiwohnte. Es waren Anhänger des Aufständischen Bar Abbas. Jehuda zerbrach jedoch an den schrecklichen Folgen seiner List und beging am Morgen des Karfreitag Suizid. Die Aufständischen entschieden sich, von Pilatus gefragt, für die Freigabe ihres Anführers Bar Abbas und damit gegen Jeschua, der ja auch gar nicht um sein Leben kämpfte.
Ob die beiden Volksmengen am Palmsonntag und am Karfreitag die gleichen oder andere Leute umfassten, bleibt bei Rinser unklar. Sie lässt die Deutung zu, dass die Palmsonntagsmenge überwiegend aus friedfertigen Kritikern der Hohenpriester bestand, die Karfreitagsmenge dagegen überwiegend aus Anhängern des bewaffneten Aufstands gegen die Römer. Ich wiederum sehe in der zweiten Menge eher Anhänger der Hohenpriester, die am Palmsonntag zu Hause geblieben waren, während die Palmsonntagsleute an Karfreitag zu Hause blieben. In beiden Fällen bleibt es ein Denkfehler oder eine Verleumdung, den Leuten der Menge zu unterstellen, sie hätten zuerst »Hosianna!« und dann »Kreuzige ihn!« gerufen.
Das letzte Abendmahl (267-71)
Jeschua wollte Schimon (Simon Petrus) die Füße waschen und danach allen anderen zehn Jüngern (Jehuda war schon weg) und Mirjam. Schimon wehrte das ab, und Jochanan machte eine Bemerkung über die heidnischen Saturnalien, bei denen Herren und Knechte die Rollen tauschen. Jeschua erwiderte: „Für uns aber ist es ein Zeichen des Neuen Bundes zwischen Gottheit und Menschheit, also zwischen Mensch und Mensch. In meinem Reich gibt es nicht Diener noch Herren, nicht Reiche noch Arme, nicht Mächtige und Ohnmächtige. In meinem Reich ist einer der Diener des andern. Auf diesem Wort steht mein Reich und steht der Friede dieser Erde.“ (268)
Das Feuer (316)
Jochanan (Johannes der Apostel) sagte in einer Diskussion mit Mirjam, die immer noch zuweilen an einen Aufstand (die Revolution) glaubte und dabei die Geschichte von Prometheus und dem Feuer erwähnte: „Wie schwer es dir und uns allen fällt, vom alten Bild uns zu lösen: Zeus, Jupiter, Adonai: gewaltige Herren, strenge Richter, harte Väter. Jeschua brauchte das Feuer nicht einem eifersüchtigen Gott zu rauben: er beraubte sich selbst, er ist das Feuer, und dieses Feuer ist Geist, und wer es in sich brennen läßt, ist göttergleich.“ (316)