Vorwarnzeit: Kornelkirschen

Kornelkirschen

Kapitel aus dem Romanprojekt Vorwarnzeit

Die Kornelkirsche (Cornus mas), auch Gelber Hartriegel oder Herlitze genannt, ist ein baumartiger Strauch aus der Gattung Hartriegel, der im Alter 8 Meter Höhe erreicht. Die Rinde der jungen Zweige ist gelbgrau. Die gelben Blüten erscheinen schon Ende März. Im August und September werden die Früchte reif. Sie sind länglich, kleiner als Kirschen, anfangs rot, später schwarzrot. Die Kornelkirsche ist nicht näher mit der Kirsche verwandt. Das Holz ist sehr hart und wurde in der Antike für Lanzen genutzt, später für Spazierstöcke. Die eingemachten Früchte werden seit Alters her gegessen, auch als Marmelade oder Gelee, und zu Likör oder Obstbrand verarbeitet.

Foto: Von Der ursprünglich hochladende Benutzer war Hanson59 in der Wikipedia auf Deutsch – Eigenaufnahme mit de:Casio QV-R40; im Botanischen Garten zu Berlin, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5948002

Nach der #Revolution muss Tutti ein Denkmal gesetzt werden! Das verkündete Till in seinen linken Aachener Freundeskreisen ein ums andere Mal.

Jeder seiner Freunde kannte Tutti, doch beliebt war sie unter #Jusos und #Kommunisten eher nicht. Tutti, bürgerlich Martina Haase, war die Seele des Widerstands gegen #Atomkraftwerke. Sie tauchte in den meisten Veranstaltungen linker Gruppen auf, ergriff bald das Wort und berichtete mit atemloser Stimme über eine neue Aktion gegen die Atomkraft, bei der aus diesem, jenem und vielen weiteren Gründen jede und jeder ganz unbedingt teilnehmen müsse, wenn er oder sie die Welt in letzter Sekunde retten wolle. Dazu verteilte sie meist ein Flugblatt mit handgeschriebener Überschrift, handgemalter Atomkraft-Nein-danke-Sonne, vollgetippt von links oben bis rechts unten, und weil danach immer noch etwas Wichtiges zu sagen war, hatte sie den verbliebenen Rand mit ihrer gut lesbaren, etwas kindlichen Handschrift spiralförmig mit weiteren Buchstaben ausgefüllt.

Das Tutti-Denkmal, das Till sich vorstellte, stand vor dem Elisenbrunnen, einem traditionellen Ort für Demos in #Aachen. Dort hatte Till Tutti auch zum ersten Mal gesehen; 1975 bei seiner ersten Demo, gegen eine Fahrpreis­erhöhung der ASEAG, des Aachener Verkehrsbetriebs. Die kleine, korpulente Frau, in zahlreiche Tücher gehüllt, bebend vor Botschaft und zugleich Geige spielend, hinter ihr zwei Mitstreiter mit Transparent. Denn sie trug ihre strophenreichen, selbst umge­dichteten Kampflieder, an jedes Demothema neu angepasst, mit leicht brüchiger Stimme und oft mit Geigenzwischenspiel vor.

Bei Till hatte Tutti einen Stein im Brett, was Tutti bald merkte und gelegentlich ausnutzte. Politisch kamen sie aus unterschiedlichen Lagern, aber in der Praxis trafen sie sich oft. Der Kampf gegen Atomkraftwerke gehörte nicht zu den ersten Themen der Aachener Jusos und der Aachener Kommunisten, wohl aber zu Tills wichtigsten Themen. Anders als die meisten seiner Genossen hegte Till keinerlei Sympathie für sowjetisch-sozialistische Atomkraftwerke und konnte sich, genau wie Tutti, durchaus einen ostelbischen GAU vorstellen. Strontium-90 kümmert sich nicht um Volks- oder Privateigentum. Da Till gerne sang, erfreuten und belustigten ihn Tuttis ungewöhnliche Kampflieder, die stets kabarettistisches Niveau und meist einen schmissig-mitsingbaren Refrain hatten. Legendär war ihre Anarcho-Version von Mozarts Arie »Reich mir die Hand, mein Leben«: »Wir sind ’ne kriminelle Vereinigung und brechen hier gemeinsam das Recht…«

Tutti studierte offiziell Germanistik, bedichtete Mozart, spielte Geige und wohnte in der Beethovenstraße. Eines Tages schleppte Tutti Till in ihre bildungsbürgerliche Wohnung ab, die ihrer Mutter gehörte. Till bewunderte die Goethe-Gesamtausgabe in Novecento-Fraktur mit goldgeprägten Buchrücken; sie stand im Flurregal. In der Küche hatte Tutti den Siphon unter dem Spülbecken abgeschraubt und einen Eimer darunter gestellt, um das Spülwasser aufzufangen. Das schüttete sie regelmäßig in den Spülkasten der Toilette, um es dort zweitzunutzen. Till wurde sogleich in Tuttis Wasserwirtschaft und die Handhabung der damit verbundenen Umstände einge­wiesen.

Nachdem sie damit fertig war, sagte Tutti:

„Die Kornelkirschen sind reif und fallen schon runter und werden auf dem Bürgersteig plattgetreten. Das ist so eine Verschwendung, denn Kornelkirschen sind eine alte Heilpflanze und man kann prima Marmelade daraus machen, die sehr gesund ist. Wenn du mithilfst, können wir in zwei Stunden Kornelkirschen ernten und entkernen und Marmelade einkochen.“

Till hatte noch nie von Kornelkirschen gehört, ließ sich aber von Tuttis Tatendrang mitreißen, zumal ihn die Sommersonne nach draußen lockte. Sie suchten eine Straße in der Nachbarschaft auf, in der mehrere große Kornelkirschensträucher standen. Die Zweige hingen voller länglich-roter Früchte. Viele waren bereits zu Boden gefallen und hatten auf dem Gehweg eine marmeladig-rötliche Pfütze gebildet.

Till fragte mit vorsichtiger Skepsis:

„Sehen hübsch aus, die Kornelkirschen! Bist du dir sicher, dass man die essen kann?“

„Ja klar kann man die essen! Wusstest du das nicht?“ Tutti tat ein bisschen empört. „Die sind sogar eine alte Heilpflanze, gut für Magen und Darm! Aus der Rinde kann man auch Tee machen. Hildegard von Bingen hat im Mittelalter Rezepte dafür ausprobiert und aufge­schrieben. Meine Mutter hat oft Marmelade daraus gemacht. Letztes Jahr wollte ich schon Marmelade machen, aber dann kam mir die Aktion gegen Creys-Malville dazwischen und ich musste in der Zeit ins Elsass fahren, da war ein Hüttendorf.“

Till gehorchte der ewigen Aktivistin, sie pflückten die Früchte von den dünnen Zweigen ab, füllten drei mitgebrachte Eimer mit der klebrigen Ernte und schleppten sie nach Hause, wobei sich die Henkel der schweren Eimer tief in die Finger einschnitten. Zu Hause bei Tutti schütteten sie jeweils einen halben Eimer voll auf das Wachstuch des Küchentischs und fingen an, die Früchte zu entsteinen. Das stellte sich als mühsam heraus, denn das Fruchtfleisch löste sich bei vielen Früchten schlecht von den Kernen ab, vor allem bei den helleren. Die Prozedur zog sich in die Länge, es wurde Abend und Till verabschiedete sich mit etwas Mühe von der emsigen Kornelkirsche, bevor sie den Marmeladentopf auf die Gasflamme setzen konnte. Später übergab sie ihm ein hellrotes Glas der so mühsam produzierten Marmelade, und als Till es auf einem gebutterten Toastbrot probierte, überwog der Eindruck, dass er schon leckerere Marmelade gegessen hatte.

Den Kornelkirschen begegnete er zehn Jahre später in Köln noch einmal. Er arbeitete in einer Werbeagentur, und die hatte gerade ein neues Domizil bezogen, in einer 60er-Jahre-Villa mit Garten im Stadtteil Raderberg. Im Eingangsbereich der Villa stand ein hoher Strauch. An einem heißen Augusttag wollte Giulio Sinatra, sein Chef, mit Till zusammen zu einem Kunden fahren. Als sie in Giulios schwarzes Cabrio einsteigen wollten, das mit offenem Verdeck unter dem Strauch abgestellt war, kriegte Giulio einen Tobsuchts­anfall; denn auf den Sitzen und in den Fußräumen lagen ziemlich viele schwarzrote, sehr matschige und sehr klebrige Früchte. Till erkannte sie sofort: Es waren Kornel­kirschen. Und zwar diesmal die richtig reifen. Während er Giulio half, das klebrige Zeug aus dem Auto zu klauben, dachte er sich: Die hätten wahrscheinlich eine wohlschmeckendere Marmelade ergeben als Tuttis hellroter Versuch.

Teil des Romanprojekts »Vorwarnzeit«

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