Deutschland ohne Nazis: Vorwort

Teil des Buchprojekts „Deutschland ohne Nazis 1790-1990. Ein Geschichtsbuch aus dem Blickwinkel der Biographien von 70 Menschen, die ich mag“

Ich wollte weinen, wo ich einst / Geweint die bittersten Tränen –
 Ich glaube, Vaterlandsliebe nennt / Man dieses törichte Sehnen.
Ich spreche nicht gerne davon; es ist / Nur eine Krankheit im Grunde.
 Verschämten Gemütes, verberge ich stets / Dem Publiko meine Wunde.
Fatal ist mir das Lumpenpack, / Das, um die Herzen zu rühren,
Den Patriotismus trägt zur Schau / Mit allen seinen Geschwüren.
Heinrich Heine[1]

Ein Vogelschiss in der deutschen Geschichte, sagte ein deutschnationaler Politiker 2018, sei die Nazizeit gewesen. Die Empörung war gewaltig, denn in dem flapsig ausgesprochenen Satz steckte eine Herabwürdigung der Opfer der Nazi­verbrechen und derjenigen, die dieser Opfer gedenken, wie auch ich es tue. Doch mir fiel es schwer, in den Chor der Empörten einzustimmen; denn ich teile einen Gedanken dieses Politikers: dass etwas nicht stimmt, wenn tausend Jahre deutscher Geschichte routinemäßig hinter zwölf Jahren dieser Geschichte zurücktreten.

Dieser Gedanke scheint kontaminiert zu sein, weil er allzu häufig von Leuten geäußert wurde, die die deutsche Geschichte für besonders wertvoll und »ruhmreich« halten,[3] ruhmreicher zum Beispiel als die polnische, und sich ihre Verehrung nicht von einer räuberischen Eskapade verderben lassen möchten. Kurz nach Kriegs­ende 1945 war diese Haltung im nationalkonservativen deutschen Großbürgertum weit verbreitet, also bei Leuten, die gute Gründe hatten, von eigener Schuld abzulenken.[4] Mir selbst liegt diese Haltung so fern, wie sie meinen Eltern fern lag.

Was mich an der Dominanz der Nazizeit in der Darstellung deutscher Geschichte stört, ist etwas anderes: Mich stört, wenn über den Widerling mit dem bizarren Bärtchen und dem verkniffenen Grinsen rund 40.000 Bücher im Angebot sind, über Beethoven dagegen, selbst in seinem Jubiläumsjahr 2020, nur 10.000, von und über Heine nur 5000 und von Hitlers zeitgenössischem Feind Tucholsky oder über ihn gar nur 1000.[5] In der nicht nachlassenden unermesslichen Aufmerksamkeit, die der brüllende Mörder 75 Jahre nach seinem schmählichen Ende genießt, erblicke ich einen späten Sieg und einen Schritt in jenes Tausendjährige Reich, von dem der puber­tierende Jüngling in Linz einst geträumt hatte.

Um dieser Verzerrung entgegenzuwirken und den Deutschnationalen ihr Ruhmreich ein wenig zu zu vermasseln, bin ich seit vielen Jahren dabei, dieses Buch zu schreiben. Ich bin davon überzeugt, dass man den Ruhm der Üblen[6] kaum bekämpfen kann, indem man von ihrer Schande singt. Dadurch geben wir ihren Verehrern nämlich Gelegenheit, sich heldenhaft für ihre Idole in die Bresche zu werfen. Wir bekämpfen das Gift wirksamer, hoffe ich, wenn wir ein positives Gegenangebot machen und das Ruhmlied der Gütigen singen. Das ist schwierig, weil die Heldinnen und Helden des Friedens, der Freiheit, der Achtsamkeit und der Solidarität fast stets Menschen voller Selbstzweifel waren,  denen Siegesrausch und Heldenkult fern lagen.

Der Titel dieses Buches spielt auf ein Buch von Bernt Engelmann an: Deutschland ohne Juden, erschienen 1970. Darin hat der Autor versucht, eine Bilanz zu ziehen, welchen Nutzen und welchen Schaden Deutschland durch die Vertreibung und Ermordung der deutschen Juden hatte. Mein Geschichtsbuch geht in gewisser Hinsicht einen ähnlichen Weg: Es fragt, welchen Nutzen Deutschland daraus hätte ziehen können, seinen Pazifistinnen und Pazifisten zu folgen und nicht den Kriegstreibern; seinen Humanistinnen und Humanisten und nicht den Technokraten.

Die biographischen Notizen zu den 99 Schlüsselfiguren sind in die Erzählung eingebunden als Rückblick in die Vorgeschichte der jeweiligen Person und ihres spezifischen Bei­trags zur unter­suchten Zeit. Auswahlkriterium ist, dass sich in ihnen ein Scheideweg, z. B. ein zeitgenössischer Streit oder eine Entscheidung, widerspiegelt. Einzelne biographisch wich­tige Ereignisse (z. B. Hugo Haases Kampf gegen den Krieg 1914, Heinrich Bölls Erzählung von Katharina Blum 1974) werden im Zusammenhang der Zeit erwähnt, in der sie geschahen. Eine übergreifende Würdigung der Schlüsselfiguren ist im Rahmen des Werkes nicht möglich – nicht nur aus Platzgründen, sondern auch konzeptionell durch die Verteilung der biogra­phischen Notizen zu jeder Person auf verschiedene Kapitel.

Graphiken von Heinrich Zille, Käthe Kollwitz oder Gerhard Seyfried, Episoden aus Romanen und Erzählungen von Émile Zola, Heinrich Mann, Anna Seghers oder Heinrich Böll schildern anschaulich und prägnant, wie die Menschen in bestimmten Zeiten gelebt haben. Kein Fachhistoriker könnte das leisten; das ist die Arbeit eines Arrangeurs.

Auf Fotos habe ich bewusst verzichtet, weil ich ihre suggestive Kraft kritisch sehe: Sie erwecken beim Betrachten oft den Eindruck, man sei unmittelbar beim Ereignis anwesend. Sie verdecken dabei gern, dass sie nur winzige Ausschnitte der Geschichte zeigen, die erst der Fotograf und dann der Autor oder Herausgeber willkürlich ausgewählt hat. Graphiken haben gegenüber Fotos zwei Vorteile: Sie verbinden sich optisch besser mit den Zeilen des Textes, und sie gehen ehrlich mit der Tatsache um, dass sie ihren Weg ins Buch durch das Gehirn einer Zeichnerin oder eines Zeichners gefunden haben.


[1]     Deutschland. Ein Wintermärchen. Cap. XXIV

[2]     unter dem Eindruck einer WDR3-Sendung über das Buch »Jemand musste Josef K. verleumdet haben« des Lteraturhistorikers Peter-André Alt über »erste Sätze der Weltliteratur«, 13.3.2020

[3]     So auch Alexander Gauland in seiner Vogelschiss-Rede vom 2. Juni 2018: »Wir haben eine ruhmreiche Geschichte, die länger dauerte als 12 Jahre.«

[4]     darunter Ernst Jünger, Walter von Molo, Frank Thiess

[5]     Laut den Suchen »Hitler«, »Beethoven«, »Heinrich Heine« und »Tucholsky« auf amazon.de (Kategorie Bücher), 14.3.2020

[6]     Im Sinne von Heinrich Heines Gedicht »Die Frage bleibt«: Warum schleppt sich blutend, elend / unter Kreuzlast der Gerechte, / während glücklich als ein Sieger / trabt auf hohem Roß der Schlechte? Ich nominiere hier als Beispiele Bismarck, Wagner, Nietzsche, Hindenburg, Schmitt und Jünger, die, anders als Hitler, tatsächlich immer noch verehrt werden.

3 Gedanken zu „Deutschland ohne Nazis: Vorwort“

  1. Lieber Jens,
    bitte schreib dieses Buch! Auch meiner Meinung nach braucht es dringend Vorbilder, mit denen sich eine demokratische Gesellschaft identifzieren kann. Und du würdest mir viel Arbeit abnehmen, die Haltungen und Taten dieser spannenden Menschen selbst zu recherchieren :-).
    Viel Erfolg, Bettina

  2. Ein spannender Ansatz, die Geschichte neu zu denken und diejenigen zu stärken, die sich zukünftig für eine friedliebende Welt einsetzten und engagieren möchten. Die Geschichte scheint sich ständig zu wiederholen. Einem latenten Fatalismus folgend, entstehen immer wieder Geschichten, Bücher, Filme mit Weltuntergangszzenarien nach ähnlichem Strickmuster. Brauchen wir diesen Nervenkitzel? Oder könnten Geschichte/n nicht einfach mal neu geschrieben werden, beispielhaft im Sinne einer friedlichen Koexistenz.

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