Deutschland ohne Nazis: 1914

Deutschland ohne Nazis: Auszug aus dem Kapitel „Arbeiter und Soldaten: 1914-1920“, mit den Unterkapiteln „Sarajevo“, „Kriegsgefahr“, „Eskalation“, „Kriegskredite“, „Kriegsgegner“, „Feindliche Brüder“.

I. Sarajevo

Es fehlten noch ein paar Schüsse in Sarajevo, um den Großen Krieg auszulösen. Sie fielen am 28. Juni 1914. Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich, der habs­burgische Thronfolger, besuchte an diesem Sommertag mit seiner Gattin, Gräfin Sophie Chotek, die Hauptstadt von Bosnien-Herzegowina, die sich Österreich-Ungarn 1908 einverleibt hatte. Die beiden verließen das Rathaus, bestiegen ein offenes Automobil und wurden bei der Fahrt durch die Innenstadt aus der Menschenmenge heraus von dem 19jährigen Gymnasiasten Gavrilo Princip erschossen. Es war der zweite Mord­an­­schlag an einem Tag: Wenige Stunden zuvor hatte bereits jemand eine Bombe auf das Auto des Paares geworfen, es aber verfehlt. Bei der Explosion waren mehrere Begleiter verletzt worden. Trotzdem hatte Franz Ferdinand auch seine zweite für die Serben provozierende Fahrt angetreten.

Der Auslöser des Krieges war nicht so nebensächlich, wie er erscheinen mag. Franz Ferdinand war ein Neffe des Kaisers Franz Joseph und durch den Selbstmord des Kron­prinzen und den Tod seines Vaters 1896 Thronfolger geworden. Er hatte entscheidenden Einfluss im österreichischen Militär und wurde 1898 Stellvertreter des Kaisers im Obersten Kommando, 1913 General­inspekteur der Armee; ein enger Vertrauter des Generalstabs­chefs Franz Graf Conrad von Hötzendorf. Dass dieser entscheidende Mann in den folgenden Tagen so heftig auf Krieg drängte, mag auch mit dem persönlichen Verlust eines Freundes zu tun haben.

Gavrilo Princip war bosnischer Serbe und Mitglied der Verschwörergruppe »Jung-Bos­nien«, die sich gegen die Besetzung und Annexion Bosniens durch Österreich wehrte. Sie stand mit dem serbischen Geheimbund »Schwarze Hand« in Verbindung. Die zuvor türkischen Provin­zen Bosnien und Herze­gowina waren 1878 von Österreich besetzt und 1908 förmlich annektiert wor­den. Dort – und besonders eng in der Hauptstadt Sarajevo – lebten ortho­doxe Serben, katholische Kroaten und moslemische Bosnier auf engstem Raum zusammen. Die Serben, die sich gegen Österreich auflehnten, wurden von der großserbischen Bewegung in Serbien und ihren Aktivisten in der »Schwarzen Hand« unterstützt.

»Krieg, Krieg, Krieg!« schrie General Conrad von Hötzendorf am nächsten Tag im Gespräch mit dem österreichischen Außenminister Graf Berchtold.

»Jetzt oder nie«, notierte Kaiser Wilhelm II.  am 3. Juli in Berlin auf einem Bericht des deut­schen Botschafters in Wien. Darin stand, in den leitenden Kreisen in Wien sage man, es müsse einmal gründlich mit den Serben »abgerechnet« werden.

»Serbien muss sterbien«, reimte ein Zyniker wenig später.

Der SPD-Vorsitzende Hugo Haase äußerte in der Partei­vorstandssitzung am 29. Juni die Befürchtung, das Attentat von Sarajevo am Vortag könne die allgemeine Kriegsgefahr auf einen neuen Höhepunkt treiben. Am gleichen Tag begann in Berlin der Prozess gegen Rosa Luxemburg wegen ihrer Freiburger Rede über Soldaten­misshandlungen. Antragsteller war der preußische Kriegsminister Erich von Falkenhayn. Als sich nach einem Aufruf der SPD-Presse 1013 Zeugen für Misshandlungen in den Kasernen meldeten, drängten Falkenhayn und der Staatsanwalt auf Vertagung auf unbestimmte Zeit. Der Prozess endete am 3. Juli.[1]

Die österreichische Regierung traute sich nicht, ohne deutsche Rücken­deckung gegen Serbien vorzugehen, denn Serbien wurde von Russland geschützt. Deshalb lag der Schlüssel für die Ent­fesselung des Krieges in Berlin. Generalstabschef Helmuth von Moltke und Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg sahen folgenden Ablauf klar vor sich: Österreich erklärt Serbien den Krieg, um seinen toten Thronfolger zu rächen und sich vor weiteren serbi­schen Anschlägen zu schützen. Russland erklärt Österreich den Krieg, um seinem Verbündeten Serbien beizustehen. Deutschland erklärt Russland den Krieg, um seinem Verbündeten Öster­reich beizustehen. Und Frankreich erklärt Deutschland den Krieg, um seinem Verbündeten Russland beizustehen. Großbritannien und Italien blieben in dieser typisch deutschen Rechnung neutral. Danach ging es schön der Reihe nach: Frankreich wurde per »Blitzkrieg« erledigt und Russland – zu langsam, um noch eingreifen zu können – im folgenden Jahr. Während sich die deutsche Armee auf Frank­reich stürzte, hielten die Österreicher Russland in Schach, nachdem sie Serbien schnell erledigt hatten.

Am 5. Juli überreichte der österreichische Botschafter in Berlin Kaiser Wilhelm II. ein Schrei­ben von Kaiser Franz Joseph und ein Memorandum des öster­reichischen Außenministers.  Franz Joseph schrieb seinem gekrönten Kollegen: Die Ausschaltung Serbiens als Machtfaktor auf dem Balkan ist jetzt das Ziel der österreichischen Politik. Wilhelm II. ermunterte die Öster­reicher, den »günstigen Moment« nicht ungenutzt verstreichen zu lassen und mit ihrer »Aktion« gegen Serbien nicht mehr länger zu warten. Für den als sicher angenommenen Fall, dass Russland sich einmischen sollte, könne Österreich sich ganz auf seinen deutschen Verbündeten ver­lassen. Man sei auf alle Eventualitäten vorbereitet. Noch am gleichen und am folgenden Tag besprach sich Wilhelm II. mit dem preußischen Kriegsminister und führenden Offizieren des General- und Admiralstabs und mit dem »Kanonenkönig« Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, um sicherzugehen, dass die deutsche Militär­maschinerie für einen größeren Krieg bereitstand. Am 8. Juli bekräftigte der deutsche Botschafter in Wien, Heinrich von Tschirschky, gegenüber dem österreichischen Außenminister Graf Berchtold, Kaiser Wilhelm habe ihn angewiesen, »hier mit allem Nachdruck zu erklären, daß man in Berlin eine Aktion gegen Serbien erwarte und daß es in Deutschland nicht verstanden würde, wenn wir die gegebene Gelegenheit vorübergehen ließen, ohne einen Schlag zu führen.«[2] Der Ton sagt: Berlin machte Druck auf Wien; Druck zum Krieg.

Ähnliche Zusagen wie von Wilhelm II. erhielt die österreichische Delegation auch von Reichs­kanzler Bethmann Hollweg. Dieses deutsche Signal ist als »Blankovollmacht« in die Geschichte eingegangen; die Österreicher hatten freie Hand gegen Serbien. Der Reichskanzler hat sie ausgestellt, weil er befürchtete, Deutschland könne den Krieg gegen Russland, den er für unausweichlich hielt, bald nicht mehr führen, weil Russland sich ebenfalls industrialisierte, Eisenbahnen baute, stärker wurde. Bethmann Hollweg stöhnte in diesen Tagen: »Die Zukunft gehört Russland, das wächst und wächst und sich als immer schwererer Alp auf uns legt.«[3] Eine Option, mit Russland in Frieden zu leben, kam für ihn nicht in Frage.

Die Österreicher brauchten vier­zehn Tage, um ein Ultimatum an die serbische Regierung zu formulieren. Das Ultimatum ging ohne weitere Beweise davon aus, dass die Drahtzieher des Mordanschlags von Sarajevo in Bel­grad säßen und Verbindung zur serbischen Regierung hätten. Man forderte von der serbischen Regierung die Annahme eines Katalogs von Unter­drückungsmaß­nahmen gegen die großserbi­sche Bewegung und die strenge Verfolgung der Verschwörer – unter Teil­nahme von österrei­chisch-ungari­schen Beamten. Diese letzte, völkerrechtswidrige Bedingung war eigens zu dem Zweck ersonnen worden, eine Ablehnung des Ultimatums sicher­zustellen; denn es ging darum, den Krieg vom Zaun zu brechen, koste es, was es wolle. Diesem Zweck diente auch die Befri­stung des Ultimatums auf 48 Stunden, von denen bei seiner offiziellen Bekanntgabe am 24. Juli schon 15 verstrichen waren. Die verbleibende Zeit sollte so kurz gehalten werden, dass kein drit­ter Staat Gelegenheit bekam, zwischen Österreich-Ungarn und Serbien erfolgreich zu ver­mitteln.

Kurz vor Bekanntgabe des Ultimatums, am 20. Juli, trafen der französische Staatspräsident Raymond Poincaré und sein Ministerpräsident Viviani zu einem lange vorher ausgemachten Staatsbesuch in Petersburg ein. Poincaré versicherte dem Zaren und dem russischen Außenmi­nister Sergej Dimitrijewitsch Sasonow die unverbrüchliche Bündnistreue Frankreichs für den Fall eines aus dem öster­reichisch-serbischen Konflikt entstehenden Krieges. Auch das war eine Art Blankoscheck, und auch Sasonow rechnete mit einem bevor­stehenden großen Krieg, den russische Militaristen dazu nutzen wollten, endlich die Meerengen zwischen Mittelmeer und Schwarzem Meer unter ihre Kontrolle zu bringen. Allerdings hätten sie lieber noch zwei weitere Jahre Vorbereitungszeit gehabt bis zum Kriegsausbruch.

Nach Bekanntgabe des Ultimatums versuchten Sasonow und der französi­sche Botschafter in Petersburg, vom britischen Botschafter eine klare Hilfszusage zu bekommen, jedoch vergeblich. Die britische Regierung mit Außenminister Edward Grey legte sich zunächst nicht fest, denn es gab eine starke Stimmung im Vereinigten Königreich, sich in den balkani­schen Konflikt um Serbien nicht einzumischen und neutral zu bleiben. Andererseits sah die Regierung klar die Zwangslage, in die England zu geraten drohte. Unter­staatssekretär Eyre Croweumriss in einer Notiz zu dem Bericht des britischen Botschafters in Petersburg die euro­päische Machtkonstel­lation im Kriegsfalle aus britischer Sicht:[4]

»Entweder siegen Deutschland und Österreich, sie erdrücken Frankreich und demütigen Russ­land. Die französische Flotte verschwunden, Deutschland im Besitz des Kanals, mit der bereit­willigen oder widerstrebenden Kooperation Hollands und Belgiens: Wie wird dann die Lage eines freundlosen England sein? Oder Frankreich und Russland siegen. Wie werden sie sich dann gegen [ein neutral gebliebenes] England verhalten? Und wie wird’s mit Indien und dem Mittel­meer stehen? In diesem Kampf, der nicht um den Besitz Serbiens geht, sondern bei dem es sich um das Ziel Deutschlands, seine politische Vorherrschaft in Europa zu errichten, und um den Wunsch der Mächte handelt, ihre individuelle Freiheit zu erhalten – in diesem Kampf sind unsere Interessen mit denen Frankreichs und Russlands verknüpft.«

Gerade wegen der erwähnten russischen Pläne bezüglich Bosporus und Dardanellen war die britische Regierung in Sorge. Die britische Flotte, Grundlage des riesigen britischen Kolonial­reiches, beanspruchte traditionell freie Fahrt durchs Mittelmeer und durch den Suez-Kanal nach Indien. Man befürchtete, im Falle eines russischen Sieges über Deutschland ohne britische Beteiligung am Ende außen vor zu stehen und dem bedrohlichen russischen »Griff auf das Mit­telmeer« machtlos zusehen zu müssen. Da ein Bündnis mit Deutschland nicht in Frage kam, blieb nur das Bündnis mit Frankreich und Russland, um weiter im europäischen Machtspiel zu blei­ben. Gleichwohl ließ eine klare britische Äußerung zum Serbienkonflikt auf sich warten, und das bestärkte die Machtpolitiker in Berlin in ihrer verhängnisvollen Illusion, England werde in dem angestrebten Kriege neutral bleiben.

Die russische Regierung befürchtete wiederum, nicht schnell genug auf einen deutsch-öster­reichischen Einmarsch reagieren zu können. Wenn der Krieg schon zu diesem aus russischer Sicht verfrühten Zeitpunkt ausbrach, so musste man wenigstens die Mobilisierung der russi­schen Militärmaschinerie so früh wie irgend möglich in die Wege leiten. Die vorgezogenen russi­schen Mobilisierungsbefehle erleichterten in den folgenden Tagen nicht unerheblich die Entfal­tung des Weltkriegs – und machten den entscheidenden Strich durch die deutsche Angriffs­planung.

Auf russisches Anraten hin formulierten die Serben ihre Antwort auf das österreichische Ultimatum äußerst gemäßigt und vermieden jede Schärfe im Ton. Die meisten Forderungen Wiens wurden akzeptiert, manche allerdings nur unter Vorbehalt. Nur die Teilnahme österrei­chisch-ungarischer Beamter an der Verfolgung der Verschwörer wurde erwartungsgemäß abge­lehnt. Der öster­reichische Botschafter antwortete mit dem Abbruch der diplomatischen Bezie­hungen. Auf Drängen Berlins erklärte Österreich-Ungarn am 28. Juli, genau einen Monat nach dem Attentat, Serbien den Krieg. Am 29. Juli schlugen die ersten österreichischen Granaten in Belgrad ein. Die Geschichte wiederholte sich im April 1941 mit einem deutschen Bombenangriff auf die serbische und jugoslawische Hauptstadt.

II. Kriegsgefahr

In Berlin war es nun die ganze Sorge der deutschen Regierung und ihres Kanzlers Bethmann Hollweg, die Verantwortung für die weitere Eskalation des Krieges in den Augen der Öffentlich­keit auf Russland abzuwälzen. Anders als Wilhelm II. sah Bethmann Hollweg die Notwendigkeit, auch die Führung der deutschen Arbeiterbewegung, also der SPD und der Gewerkschaften, in die deutsche Kriegspolitik mit einzu­binden, damit keine nennenswerte Opposition gegen den Krieg aufkommen konnte. Und nichts eignete sich dazu besser als russische Angreifer, gegen die man sich und die Kultur des Westens verteidigen musste, denn der russische Zarismus war in der deutschen Arbeiter­bewegung tief verhasst. Dass die Entwicklung diesmal auf einen hand­fe­sten Krieg hinsteuerte, hatte in der SPD-Führung zunächst nur Hugo Haase erkannt. Am 23. Juli, nach Bekanntgabe des Wiener Ultimatums an Serbien, schloss sich die ganze SPD-Führung der Einschätzung Haases an. Doch Julian Marchlewski, ein Vertreter des linken SPD-Flügels, schrieb noch am 23. Juli in der »Sozialdemo­kratischen Korrespondenz«: »Von ernsthafter Kriegsgefahr ist augenblicklich sicher nicht die Rede.«[5]

Haase organisierte eine Kette von Friedens­kundgebungen in ganz Deutschland mit etwa 500.000 Teilnehmern – allesamt im Saale, denn Kundgebungen auf der Straße waren bereits verboten. Die Redner prangerten zwar den abenteuerlichen Kurs der österreichischen Regierung an, nicht jedoch das dahinterstehende Berliner Abenteurertum. Am 24. Juli fand im Gegenzug auch die erste antirussische Demonstration kriegslüsterner Kleinbür­ger vor der russischen Botschaft in Berlin statt. Diese Volksbewegung erwies sich im weiteren Verlauf als die stärkere.

Geschickterweise verzichtete die Regierung darauf, die in ihren Schubladen liegenden Pläne für die Herstellung des inneren Kriegszustandes durch­zuführen und alle SPD- und Gewerk­schafts­führer festzunehmen. Stattdessen empfing Unterstaatssekretär Drewsam 26. Juli die Sozialdemo­kraten Haase und Otto Braun, um der SPD-Füh­rung mitzu­teilen, dass man ihre Friedens­kundgebungen dulden werde. Sie sollten aber dafür sorgen, dass die Redner offene Kritik an der deutschen Regierungspolitik vermieden, um den »Kriegshetzern in Russland« nicht in die Hände zu arbeiten. Drews versicherte den Sozialdemo­kraten, die deutsche Regierung sei am Erhalt des Friedens interessiert, werde aber eingreifen, wenn Russland einen Krieg provozieren sollte. Haase widersprach, wie er in seinem Tagebuch notierte, Drews‘ Einschätzung, dass ein von Österreich provozierter Krieg für Deutschland den Bündnisfall nach dem Dreibund-Vertrag auslöse.[6]

Zwei Tage später traf sich Reichskanzler Bethmann Hollweg mit dem SPD-Reichstags­abge­ord­neten Albert Südekum, um über ihn den SPD-Partei­vorstand im Sinne einer stillschweigen­den Unterstützung des deutschen Kurses zu beeinflussen. Südekum hielt noch am selben Tag Rück­sprache mit dem übrigen Parteivorstand und berichtete Bethmann Hollweg schriftlich, seitens der SPD seien – gerade im Interesse des Friedens – keinerlei Streik­aktionen gegen die Regierung geplant. Der SPD-Vorstand war offensichtlich tief beeindruckt, von Seiner Exzellenz, dem Reichskanzler persönlich, in einem so kritischen Moment deutscher Politik ins Vertrauen gezogen worden zu sein. Immerhin galten die Sozialdemokraten 1914 offiziellerseits noch als »vaterlandslose Gesellen«. Am 30. Juli berief sich Bethmann Hollweg in einer Kabinettssitzung auf den Brief Südekums und ver­sicherte seinen Ministern, von seiten der SPD seien keine Streikaktionen zu befürchten. Am nächsten Tag wurde mit dem »Zustand drohender Kriegs­gefahr« auch der Belagerungszustand im Innern erklärt; von da an waren sämtliche Anti-Kriegs-Kundgebungen verboten. Das zu diesem Zweck mobilisierte preußische Gesetz stammte aus dem Jahre 1851, richtete sich also ursprünglich gegen die bürgerlichen Revolutionäre von 1848.

Am 29. und 30. Juli trat in Brüssel das Internationale Sozialistische Büro zusammen, eine Art Vorstand der II. Internationale. Für die SPD waren Hugo Haase und Karl Kautsky, für die pol­nische Sozialdemokratie Rosa Luxemburg in Brüssel. Französische, britische und deutsche Sozialisten versicherten sich gegenseitig, dass ihre jeweiligen Regierungen keinen Krieg wollten.[7] Haase referierte, was ihm Unterstaatssekretär Drews zugesagt hatte. Auch bei den Sozialisten sah man also, ganz wie Bethmann Hollweg sich das vorgestellt hatte, den Schwarzen Peter bei den Russen. Rosa Luxemburg ahnte zwar besser als andere die Gefahr und bean­tragte vergeb­lich, sofort einen außerordentlichen Sozialisten­kongress zur Kriegs­frage abzuhalten wie im No­vember 1912. Man beschloss statt­dessen, den für den 23. August in Wien geplanten regulären Kongress nach Paris zu verlegen, auf den 9. August vorzuziehen und die Kriegsfrage als ersten Punkt in die Tagesordnung aufzunehmen.

Doch auch die sonst so scharfsichtige Beobachterin erkannte nicht, was in Berlin gespielt wurde. Am 28. Juli schrieb sie in der »Sozialdemokratischen Korre­spondenz«, Österreich habe sein Ultimatum ohne Absprache mit der deutschen Regierung in die Welt gesetzt und zwinge jetzt seinen Verbündeten Deutschland, »sich gleichfalls in das Blutmeer kopfüber zu stürzen, sobald das verbrecherische Treiben Österreichs den russischen Bären auf den Kampfplatz wird herausgelockt haben. (…) Fragt man freilich, ob die deutsche Regierung kriegsbereit sei, so kann die Frage mit gutem Recht verneint werden.«[8] Ein verhängnisvoller Irrtum! Sie teilte jedoch nicht den Irrtum vieler SPD-Füh­rer, die glaubten: Die SPD dürfe deshalb nicht offen gegen einen deutschen Kriegseintritt auf­treten, weil nur eine »entschlossene« deutsche Haltung die russischen »Kriegshetzer« zur Räson bringen könne. Da setzte Rosa Luxemburg lieber auf den »entschlos­senen Friedenswillen« des russischen Proletariats. Mit dem war dann drei Jahre später tatsächlich eine Revolution zu machen.

III. Eskalation

Zunächst jedoch nahm das Unheil seinen Lauf, und kein Proletariat der Welt hat 1914 ernsthaft versucht, es zu stoppen. Am 29. Juli, einen Tag nach Kriegsausbruch in Österreich und Serbien, beschloss Zar Nikolaj II. zunächst eine Teilmobilisierung der russischen Armee an der österrei­chisch-ungarischen Grenze. Am gleichen Tage erklärte der britische Außenminister Grey dem deutschen Botschaf­ter, Großbritannien werde in den Krieg eingreifen, wenn sich Deutschland und Frankreich an dem Konflikt zwischen Österreich und Russland beteiligen sollten. Das ver­unsicherte einen Tag lang den deutschen Reichskanzler Bethmann Hollweg, der gespürt haben mag, dass die weitere Eskalation des Krieges in den Untergang führen musste, und dass dieser Moment der letzte war, den Wahnsinn zu stoppen. Anders der deutsche General­stabschef, Helmuth von Moltke (1848-1916): Der Neffe des berühmten preußi­schen Generalfeld­marschalls drängte schon seit 1912 auf Krieg und forderte deshalb am 30. Juli über den österrei­chischen Militärattaché seinen Wiener Kollegen Conrad von Hötzendorf auf, sofort gegen Russland zu mobilisieren und den europäischen Krieg zu wagen; »Deutschland geht unbedingt mit.«[9] Moltke dachte an den Schlieffenplan, der vorsah, dass die Österreicher den Deutschen im Osten den Rücken freihalten sollten, und an die wachsende Militärmacht Russlands.

Am 30. Juli beschloss die russische Regierung die Generalmobilmachung der russischen Armee, was am folgenden Tag allgemein bekannt wurde. Zum Schicksalstag wurde Freitag, der 31. Juli 1914.

  • Berlin, früher Vormittag: Im deutschen Generalstab treffen erste Meldungen über russische Mobilmachungsmaßnahmen an der deutschen Ostgrenze ein. In der Tat startet in diesen Stunden die russische Generalmobilmachung.
  • Wien, später Vormittag: Gedrängt vom deutschen Generalstab unterzeichnet Kaiser Franz Joseph die allgemeine Mobilmachung in Österreich-Ungarn.
  • Paris, Café le croissant, Mittag: Der französische Sozialistenführer und Philosoph Jean Jaurès, ein überzeugter Pazifist, wird 54jährig von einem fanatischen Nationalisten ermordet.
  • Berlin, Wilhelmstraße, 13 Uhr: Auf Druck des Generalstabs erklärt die deutsche Regie­rung den »Zustand drohender Kriegsgefahr«. Das bedeutet innenpolitisch die Verhängung des Belagerungs­zustandes und militärisch den Beginn der allgemeinen Mobilmachung zwei Tage später, also zum 2. August.
  • Berlin, Reichstag, Nachmittag: Partei- und Fraktionsvorstand der SPD beraten über die zu erwartende Abstimmung im Reichstag über Kriegskredite. Die meisten sind für eine Stimm­enthaltung der Sozialdemokraten. Nur der Abgeordnete Eduard David spricht für die An­nahme der Kriegskredite.
  • Berlin, Kaiserliches Schloss, 15 Uhr: Kaiser Wilhelm II. billigt ein deutsches Ultimatum an Russland, das ein deutscher Diplomat wenig später dem russischen Botschafter übergibt. Eine Stunde später übergibt ein deutscher Diplomat dem französischen Botschafter ebenfalls ein Ultimatum.
  • Paris, Abend: Das föderative Komitee des französischen Gewerkschaftsbundes CGT beschließt, auf einen Generalstreik gegen die bevorstehende Mobilisierung der Armee zu verzichten. Im Gegenzug läßt die französische Regierung ihre Pläne zur Festnahme von meh­reren tausend Gewerkschaftern und Anarchisten in der Schublade.

In den Augen der deutschen Öffentlichkeit waren diese Schritte nur eine Reaktion auf die russi­sche Generalmobilmachung, also rein defensiv. Die Wirklichkeit sah anders aus. Der abenteuer­liche und verhängnisvolle Schlieffenplan von 1905 zwang die deutsche Regierung, den Krieg mit Frankreich zu forcieren. Für den 2. August war bereits der Überfall auf Luxemburg vorgesehen, für den 4. August der Über­fall auf das neutrale Belgien. Zu diesem Zweck setzte die deutsche Regierung mit ihren Ultima­ten Russland und Frankreich die Pistole auf die Brust: Russland müsse innerhalb von 12 Stunden alle militärischen Maßnahmen widerrufen, und Frank­reich innerhalb von 18 Stunden seine Neutralität für den Fall eines deutsch-russischen Krieges erklä­ren, andernfalls drohe die Kriegserklärung. Für den Fall, dass die Franzosen das Ultimatum wider Erwarten akzeptieren sollten, hatte der deutsche Botschafter in Paris die Anweisung, als zusätzliche Sicherheit die Übergabe der französischen Festungen Toul und Verdun an deutsche Truppen zu verlangen; eine für Frankreich völlig inakzeptable Demütigung.

Da die russische Regierung das deutsche Ultimatum nicht beantwortete, erklärte die deutsche Regierung am Abend des 1. August Russland den Krieg. Bereits am Nachmittag war die allge­meine Mobilmachung verkündet worden. Die Regierung in Paris erklärte zum deutschen Ulti­matum, Frankreich werde »gemäß seinen Interessen« handeln. Großbritannien machte seine Flotte mobil. Am 2. August verlangte die deutsche Regierung von Belgien ein Durchmarsch­recht für ihre Truppen, unter dem Vorwand, einem angeblich bevorstehenden französischen Angriff auf Belgien zuvorkommen zu müssen. In Kenntnis des deutschen Kriegsplanes sicherte Groß­britannien Frankreich den Schutz der Kanalküste zu. Am 3. August erklärte Deutschland Frankreich den Krieg, unter dem Vorwand, französische Truppen hätten die deutsche West­grenze verletzt. In der Nacht zum 4. August begann der deutsche Überfall auf Belgien, dessen Regierung sich geweigert hatte, einen Durchmarsch deutscher Truppen zu gestatten.

Im britischen Kabinett gab es Widerstände gegen einen Kriegseintritt. Der soziali­stische Gewerkschaftsführer John Burnstrat aus Protest gegen den Krieg als Minister zurück. Der deutsche Überfall auf Belgien, dessen Neutralität seit dem Londoner Protokoll von 1839 unter britischem Schutz stand, führte jedoch zur Entscheidung im Sinne Greys: ein Ultimatum, das angesichts der deutschen Truppen in Belgien einer Kriegserklärung gleichkam. Bethmann Hollwegs Spekulation auf eine britische Neutralität war gescheitert, der Große Europäische Krieg komplett. In einer heftigen Diskussion mit dem britischen Botschafter nannte Bethmann Hollweg das Londoner Protokoll einen »Fetzen Papier«. Stunden später bekannte er sich vor dem Reichstag zum Bruch des Völkerrechts und versprach Belgien scheinheilig Ersatz für die angerichteten Kriegsschä­den. Auf Druck des Militärs widerrief er diese Erklärung im Dezember 1914.

IV. Kriegskredite

Der Reichstag des wilhelminischen Kaiserreiches hatte nicht viele Rechte, aber das Budget­recht hatte er. Wenn die Regierung Geld brauchte, war sie auf die Zustimmung des Reichstags angewiesen. Die Sozialdemokraten im Reichstag konnten das nicht verhindern, und es gab gute Gründe, einen offenen Aufstand gegen den Krieg für aussichtslos zu halten. Aber eine Zustimmung zu den Kriegskrediten, wie sie der #er Abgeordnete Eduard David verlangte, ging weit über die Hinnahme des Unvermeidlichen hinaus: Die SPD verzichtete damit nicht nur auf Widerstand, sie stimmte dem Krieg offen zu; sie unterstützte den Krieg einer Regierung, deren militaristischer und imperialistischer Charakter zuvor allgemein anerkannt gewesen war. Die Entscheidung fiel am 2. und 3. August in der Reichstagsfraktion unter dem Eindruck der deutschen Kriegser­klärung an Russland, und bevor der Krieg mit Frankreich und England Tat­sache war. Diese unklare Situation verhalf der Haltung des sozialdemokratischen Publizi­sten Friedrich Stampferzum Durchbruch, der schon am 30. Juli geschrieben hatte: Die Arbeiter müssten dem Kaiser und den Generälen folgen, um die europäische Zivilisation vor der russisch-zaristischen Barbarei zu schützen. Durch Verteidigung des Vaterlandes, so Stampfer, könne sich das »freie Volk« auch im Innern ein freies Land erobern. Dies war die sozialdemokratische Vari­ante der  deutschen Idee eines »Schützengraben-Sozialismus«.

Am 2. August beschloss die Vorständekonferenz der sozialdemokratischen Gewerk­schaften unter Führung von Karl Legien, alle laufenden Lohnkämpfe abzubrechen, die Streikkassen in den Dienst der Kriegspolitik zu stellen und mit dem Geld Arbeitslose zu unter­stützen. Voller Stolz bot Legien der deutschen Regierung den Beistand »seiner« vorbildlichen Arbeiter-Orga­nisationen an. Von einem preu­ßisch-deutschen Reichskanzler als gleichberechtig­ter Verhand­lungspartner behandelt zu werden, das erfüllte ihm seine kühnsten Träume. Am gleichen Tag kämpfte Hugo Haase im SPD-Fraktionsvorstand gegen eine Annahme der Kriegskredite. Er konnte sich jedoch nicht gegen Eduard David, Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann durchsetzen: mit vier gegen zwei Stimmen stimmte der Fraktionsvorstand für die Bewilligung der Kriegskredite.

Am 3. August fand die entscheidende Sitzung der SPD-Reichstagsfraktion statt. Dass alle an­deren Fraktionen den Kriegskrediten zustimmen würden, stand außer Frage. 92 der 111 SPD-Abgeordneten waren anwesend. Eduard David, Ludwig Frank und Philipp Scheidemann spra­chen für die Annahme der Kriegskredite. Der Parteivorsitzende Hugo Haase, Rechtsanwalt und überzeugter Pazifist wie der Franzose Jaurès, sprach dagegen, ebenso der linke Flügelmann Karl Liebknecht, auch er Rechtsanwalt von Beruf und Sohn des SPD-Gründervaters Wilhelm Liebknecht. Noch zwei, drei Tage vorher hatten die mei­sten SPD-Politiker eine Ablehnung der Kriegskredite durch die Fraktion erwartet. Die hitzige Debatte wurde schon nach kurzer Zeit durch einen Antrag auf Schluss der Debatte abgebrochen. 78 Abgeordnete stimmten für und 14 gegen die Annahme der Kriegskredite. Haase vereinbarte mit Scheidemann, dass dieser die Entscheidung der Fraktion im Reichstag begründen sollte. Doch unmittelbar vor der Reichs­tagssitzung am 4. August zwang die Fraktions­mehrheit ihren Mitvor­sitzenden Haase, den gegen seinen Willen gefassten Beschluss selber im Reichstag zu begründen, indem sie an sein Pflichtbewusstsein appellierten. So trug der Pazifist jene schwammige Erklärung vor­, mit der die deutsche Sozialdemokratie ihre Zustim­mung zum Krieg des deutschen Kaiserreiches erklärte.[10] Der heimtückische und offen imperialistische Überfall auf Belgien hatte einige Stunden zuvor begonnen.

»Die Folgen der imperialistischen Politik … sind wie eine Sturmflut über Europa hereingebrochen. Die Verantwortung hierfür fällt den Trägern dieser Politik zu, wir lehnen sie ab. (…) Jetzt stehen wir vor der ehernen Tatsache des Krieges. Uns drohen die Schrecknisse feindlicher Invasionen. Nicht für oder gegen den Krieg haben wir uns heute zu entscheiden, sondern über die Frage der zur Verteidigung des Landes erforderlichen Mittel. (…) Unsere heißen Wünsche begleiten unsere zu den Fahnen gerufenen Brüder ohne Unterschied der Partei. (…) Für unser Volk und seine freiheitliche Zukunft steht bei einem Sieg des russischen Despotismus … viel, wenn nicht alles auf dem Spiel. Es gilt, diese Gefahr abzuwehren, die Kultur und die Unabhängigkeit unseres eigenen Landes sicherzustellen. Das machen wir wahr, was wir immer betont haben: Wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich.«

Ein Passus, der sich ausdrücklich gegen deutsche Eroberungen wandte, wurde auf Druck der Regierung noch kurzfristig heraus­gestri­chen, angeblich, weil er einen Kriegs­eintritt Englands hätte befördern können. Es blieb bei dem allgemeinen Satz: »…wie wir auch in Übereinstimmung mit ihr [der Internationale] jeden Eroberungskrieg verurteilen.« Alle Abgeordneten, darunter Karl Lieb­knecht, folgten der Fraktionsdisziplin und stimmten im Reichstag für die Kriegskredite. August Bebels mutiger Auftritt gegen den Deutsch-Französischen Krieg 1870 im Norddeutschen Reichstag war vergessen. Eine der tragischen Folgen von Haases Pflichtbewusstsein bestand darin, dass auch in der linksgerichteten Geschichts­betrachtung sein lebenslanger unermüdlicher Einsatz für den Frieden hinter dieser einen Stunde der Schwäche verschwand. Konservative Historiker hüteten sich indessen, den jüdisch-preußischen Sozialisten und Pazifisten für seinen »vater­ländischen« Einsatz zu loben.[11]

Der 4. August 1914 hatte für die deutsche und für die ganze europäische Arbeiterbewegung höchst weitreichende Folgen, die in vielfältiger Weise auf die deutsche Geschichte einwirken sollten. An diesem Tage scheiterte die 1889 in Paris gegründete II. Internationale, deren größte und wichtigste Partei die SPD gewesen war. Drei Wochen zuvor, am 12. Juli 1914, war sie noch mächtig und stark gewesen. Damals trafen sich im französischen Städtchen Condé sur l’Escaut an der belgischen Grenze 20.000 französische und belgische Arbeiter zu einer Friedenskund­gebung, auf der als deutscher Redner Karl Liebknecht sprach. Als der Deutsche auftrat, riefen Tausende: »Vive l’Allemagne!« – »Es lebe Deutschland!« Und der Vorsitzende der Ver­samm­lung erklärte, damit sei nicht das Deutschland der Hohenzollern, der Krupp und der mili­tärischen Cliquen gemeint, sondern das Deutschland der Goethe und Schiller, der Kunst, der Wissen­schaft, der Literatur und vor allem der Sozialdemokratie.[12]

Am 4. August 1914 begann die Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung in einen staatstreu-sozial­demo­kratischen und einen kommunistischen Flügel. Aus der Opposition gegen den Krieg ent­stand als Keimzelle der späteren KPD die »Gruppe Internationale«, der neben Liebknecht, Rosa Luxemburg, Franz Mehring und Clara Zetkinauch der junge Wilhelm Pieckange­hörte, später Mitbegründer und Präsident der DDR. In der Schweiz hatte die Gruppe Kontakt zu dem dort im Exil lebenden russischen Revolutionär Wladimir Iljitsch Lenin. Der 4. August 1914 und die bestialische Grausamkeit der Kriegstreiber des Weltkriegs ließen bei Lenin und anderen den Gedanken reifen, der drei Jahre später zur Grundlage der russischen Oktober­revolution und der Kommunistischen Inter­nationale wurde: Die Arbeiter sollten aufhören, sich gegenseitig abzuschlachten, und die Waffen, die sie als Soldaten in den Händen hatten, auf die Offiziere, Machthaber und Profiteure des Krieges richten. Hier gründete Lenins Hass auf die »Sozialchauvinisten«, jene Sozialdemokraten, die die Idee der »Vater­lands­verteidigung« aner­kannten. In Lenins Todesjahr 1924 spitzte Stalin den unglück­seligen Begriff weiter zu in »Sozial­faschisten« und verbaute den deutschen Kommu­nisten damit den Weg zu einer Einigung mit der SPD gegen die wirklichen Faschisten.

Der von Hugo Haase und Karl Kautsky ab 1915 angelegte dritte, pazifistische Flügel begründete ebenfalls eine Traditionslinie, die später von Leuten wie Gustav Heinemann, Willy Brandt, Erhard Eppler und Heidemarie Wieczorek-Zeul wieder aufgegriffen wurde.

V. Kriegshetzer

Nachdem die einstmals so mächtige deutsche Arbeiterbewegung widerstandslos das Feld der politischen Öffentlichkeit geräumt hatte, konnte dort Platz greifen, was viele später ehrfürchtig den »Geist von 1914« nannten. Tausende von Menschen bejubelten am 2. und 3. August vor dem Berliner Schloss, auf dem Münchener Odeonsplatz und in vielen anderen Städten die deutschen Kriegserklärungen. In der Menge auf dem Münchener Odeonsplatz: der 25jährige österrei­chi­sche Gelegenheitsmaler Adolf Hitler, der 1913 aus Wien in die bayerische Metropole gekommen war und sich dort mit dem Zeichnen von Skizzen und dem Malen von Ansichtskarten durchschlug. Wie viele tausend andere Männer meldete er sich schon in den ersten Augusttagen freiwillig zur bayerischen Armee. Hitler schrieb später in dem ihm eigenen religiösen Pathos über diesen Tag: »Ich schäme mich auch heute nicht, es zu sagen, dass ich, überwältigt von stür­mi­scher Begeisterung, in die Knie gesun­ken war und dem Himmel aus übervollem Herzen dankte, dass er mir das Glück geschenkt, in dieser Zeit leben zu dürfen.«

Der Dichter Bruno Frank, später von Hitler und den Nazis aus dem Lande gejagt, teilte 1914 Hitlers Gefühle. Sein Gedicht »1914«, eins von geschätzt anderthalb Millionen deutschen Kriegsgedichten, die in diesen Wochen entstanden, wurde noch 1955 in die populäre Sammlung »Der ewige Brunnen. Ein Hausbuch deutscher Dichtung« aufgenommen, und zwar in dem Kapitel »Stolze Zeit«:[13]

Frohlockt, ihr Freunde, daß wir leben / und daß wir jung sind und gelenk, / nie hat es solch ein Jahr gegeben, / und nie warJugend solch Geschenk!

Wir durften stehn und durften schreiten, / so morgenwärts und abendwärts / die größte aller Erden­zeiten, – / uns brandet‘ sie ans junge Herz.

Wir sahn die Asiaten stürmen, / mit Hochlands Tapferen geeint, / auf uns von seiner Dome Türmen / spie seinen Strahl der alte Feind,

auf uns im ungeheuren Bette / goß sich aus Steppen dunkles Meer. / Es brach vor unsrer Hände Kette / des Morgens Heer, des Abends Heer.

Wir würden gern sie wiedersehen, / die sanfte Zeit, die Friedenszeit, / denn keiner mag ins Dunkel gehen, / er geht mit Neid, er geht mit Leid;

vielleicht war Schönes noch auf Erden / für seine Augen auferbaut, – / das Größte, das ihm konnte werden, / dies stolze Jahr hat er geschaut.

Auch der spätere Satiriker Alfred Henschke alias Klabund steuerte kriegs­begeisterte »Soldatenlieder« und ein »Kleines Bilderbuch vom Kriege« bei, 1916 den Gedichtband »Dragoner und Husaren«. Die deutsche Dichtkunst trat in Uniform auf und kannte plötzlich nur noch ein einziges Thema.

In den Augen dieser Menschen führte Deutschland einen gerechten, ja, einen edlen und schönen Verteidigungskampf ge­gen jene feindlich gesonnenen Mächte, die ihm den ihm gebührenden Platz und die »Luft zum Atmen« nicht gönnten. Besonders verhasst war England, das »perfide Albion«, weil es durch sein langes Zögern in der Julikrise 1914 in Deutschland zunächst die Hoffnung genährt hatte, es werde neutral bleiben. Man sah Deutsch­land von Feinden umgeben und deshalb gezwungen, den ersten Schlag zu führen und die Blockade aufzubrechen. In vielen Häusern spielten sich Tragödien ab, wie sich eine davon im Tagebuch der Graphikerin Käthe Kollwitz wider­spiegelt. »10. August. Abends bittet [ihr Sohn] Peter [seinen Vater] Karl, ihn vor Aufgebot des Landsturms ziehen zu lassen. Karl spricht mit allem dagegen, was er kann. Ich habe das Gefühl des Dankes, dass er so um ihn kämpft, aber ich weiß, es ändert nichts mehr. – [Karl sagt:] Das Vaterland braucht dich noch nicht, sonst hätte es dich schon gerufen. – [Peter:] Das Vaterland braucht meinen Jahrgang noch nicht, aber mich braucht es. Immer wendet er sich stumm mit flehenden Blicken zu mir, dass ich für ihn spreche. Endlich sagt er: Mutter, als du mich umarmtest, sagtest du: ‚Glaube nicht, dass wir feige sind, wir sind bereit.‘ […Wir] umarmen uns und küssen uns, und ich bitte den Karl für Peter. – Diese einzige Stunde. Dieses Opfer, zu dem er mich hinriss, und zu dem wir Karl hinrissen.«[14] Die später so leidenschaftliche Pazifistin Käthe Kollwitz unterstützte ihren Sohn in seinem tödlichen Wahn, sich freiwillig zum Krieg melden zu müssen.

Im September veröffentlichte Kätze Kollwitz in der von Paul Cassirer herausgegebenen, wöchentlich erscheinenden Mappe »Kriegszeit« mit Künstler­flugblättern die Lithographie »Das Bangen«. Sie zeigt eine Frau, die um ihren Mann oder Sohn bangt. Der Grundton der Mappe war konservativ-national. Nach dem Tod ihres Sohnes am 22. Oktober in Flandern stellte Kollwitz jedoch ihre Mitarbeit dort ein, anders als Max Liebermann und Ernst Barlach. Bis 1919 zeichnete Kollwitz kaum noch, beschäftigte sich aber ab Dezember mit der geplanten Doppelskulptur der trauernden Eltern.[15]

Zu den wenigen, die in Wien öffentlich gegen die fanatische Kriegsbegeisterung der herrschenden Kreise wie auch der Massen auftraten, gehörten der Publizist Karl Kraus und der Dramatiker Arthur Schnitzler. Während des Weltkriegs wurden deshalb Schnitzlers Stücke in den meisten österreichischen Theatern nicht mehr gespielt.

Charakteristisch für den »Geist von 1914« wurde der berühmte Satz Kaiser Wilhelms II.: »Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.« Die ständigen Streitereien zwischen Protestanten und Katholiken, zwischen Preußen und Österreichern, zwischen Konser­vativen und Liberalen, zwischen Unter­nehmern und Arbeitern schienen vergessen; es galt nur noch eines: das Vaterland. Speziell für die Integration der Sozialdemokraten ins vaterlän­dische Lager wurde der Begriff des »Burgfriedens« geprägt. Und so reihten sich die Männer mit einem geschnürten Paket unterm Arm vor den Meldestellen ein, vertauschten den schwarzen Anzug mit der grauen Uniform, den sommerlichen Strohhut mit der Pickelhaube und bestiegen jene Eisenbahn­waggons, auf die man mit Kreide geschrieben hatte: »Ausflug nach Paris« – »Auf Wie­dersehen auf dem Boulevard« – »Auf in den Kampf, mir juckt die Säbelspitze« – »Jeder Schuss ein Russ’! Jeder Stoß ein Franzos’! Jeder Tritt ein Brit’!« Frauen und Kinder jubelten und winkten ihnen zu, die Blaskapelle spielte: »Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus…«

Darunter war auch der sächsische Dichter Hans Bötticher, der spätere Joachim Ringelnatz, der sich freiwillig zur Marine meldete. Im Verlauf des Krieges wurde er Leutnant zur See und Kommandant eines Minensuchbootes.[16] Darunter waren die Maler August Macke und Franz Marc, die Schriftsteller Hermann Löns und Alfred Lichtenstein. Die letzte Ausstellung der Darmstädter Künstlerkolonie Mathilden­höhe wurde bei Kriegsbeginn abgebrochen. Der Architekt Albin Müller hatte rund um die Kolonie Mietshäuser entworfen.[17] Der Maler Wassily Kandinsky musste aus Deutschland nach Russland zurückkehren. Damit endete die Geschichte der Murnauer Künstlerkolonie#. Aus Worpswede #

Unter den Freiwilligen waren auch rund 10.000 deutsche Juden. Durch besonderen Einsatz wollten sie ihre nationale Zuverlässigkeit unter Beweis stellen und erhofften sich für die Zeit nach dem Sieg die vollkommene Gleichstellung als Dank. Die jüdischen Industriellen Walther Rathenau und Albert Ballin nahmen wichtige Stellungen in der Kriegswirtschaftsplanung ein, und selbst die 1915 eingeführte deutsche Giftgaswaffe war das Werk eines Juden, des Chemikers Fritz Haber. Ohne die von Haber erfundene und von Carl Bosch industriell entwickelte künstliche Ammoniaksynthese hätte Deutschland nach dem Wegfall der Salpeterzufuhren gar keine Munition mehr produzieren können. Der jüdische Romanist Victor Klemperer notierte in seinem später berühmt gewordenen Tagebuch am 3. August: »Wir sind in äußerster Notwehr und in allerreinstem Recht. Geht es wirklich um Deutschlands Existenz…, dann muss eben der letzte Mann heraus.« Der badische SPD-Reichstagsabgeordnete Ludwig Frank meldete sich freiwillig und schrieb am 23. August von der Front nach Hause: »Jetzt ist für mich der einzige mögliche Platz in der Linie, in Reih und Glied, und ich gehe wie alle anderen freudig und siegessicher.«[18] Der 21jährige spätere Dramatiker und Pazifist Ernst Toller, damals Student in Grenoble, schlug sich unter Abenteuern zur deutschen Grenze durch, um als deutscher Soldat jüdischer Konfession auf seine französischen Gast­geber schießen zu können.[19] Der # Maler Max Beckmann meldete sich im September freiwillig an die Front, wurde Sanitätssoldat und skizzierte alsbald täglich das Grauen des Krieges. Die # Physikerin Lise Meitner musste als Röntgenschwester ins österreichische Kriegsheer einrücken. Im Sommer 1916 kehrte sie nach Berlin zurück.[20]

Beckmann war zunächst von der Gewalterfahrung des Krieges fasziniert. Am 18. September schrieb er in einem Brief: »Gestern N. war fabelhaft.Wie nach einem riesigen Erdbeben, der Kirchturm halbiert, die Häuser am Markt glatt abrasiert…« Am 11. Oktober jubelte er: »Draußen das wunderbar großartige Geräusch der Schlacht… wie wenn die Tore zur Ewigkeit aufgerissen werden ist es, wenn so eine Salve herüberklingt… Ah, diese Weite und unheimlich schöne Tiefe!«[21]

Zahlreiche berühmte Schriftsteller, Philosophen, Historiker, National­ökonomen, Juristen, Theolo­gen und Künstler beteiligten sich spontan an der Konstruktion eines Mythos: der angeb­lich revolutionären Überwindung der Klassengesellschaft durch die neue deutsche Ein­heits­idee, die den westlich-bürgerlichen Gesell­schaften Frankreichs und Englands entgegen­gesetzt wurde. Der Verfassungsjurist Johann Plengeschrieb rückblickend 1916: »Zum zweiten Male zieht ein Kaiser durch die Welt als Führer eines Volkes mit dem ungeheuren, weltbestür­zenden Kraftgefühl der allerhöchsten Einheit.«[22] Plenge prägte nicht nur den Begriff der »Ideen von 1914«, sondern auch den des »nationalen Sozialismus«. Der katholische Sittenphilosoph Max Schelerfeierte 1914 den Krieg als »Vehikel des wahren sittlichen Fortschritts«.[23] Thomas Mannbejubelte in einem offenen Brief an seinen pazifistischen französi­schen Kollegen Romain Rolland den »unerhörten, gewaltigen und schwär­merischen Zusammen­schluss der Nation« und dankte Gott für den »Zusammenbruch einer Friedenswelt, die er so satt, so überaus satt hatte.«[24] Man hat den Eindruck, nach 43 Jahren ohne Krieg waren diese Männer friedensmüde.

Das von Plenge angedeutete Erlebnis des »Kraftgefühls« im Kriege verband sich mit der in Deutschland seit 1814 besonders populären Philosophie Gottlieb Fichtes, die – natürlich gegen den französisch-britischen Rationa­lismus gewandt – das emotionale und intuitive Erleben zum zen­tralen Orientie­rungs­punkt erhob. Nach seiner Abwendung von den Idealen der Französischen Revolution im Laufe des Befreiungskrieges gegen Napoleon hatte Fichte in seinen »Reden an die deutsche Nation« das deutsche Volk zum Urvolk, die deutsche Sprache zur Ursprache erklärt. Daran anknüpfend deutete der Populärphilosoph und Nobel­preisträger Rudolf Eucken den August 1914 als Urteilsspruch über die (west­europäische) Aufklärung, den Krieg als Bewährungsprobe für die deutsche Innerlichkeit; das deutsche Volk war ihm – ganz Fichte – die Seele der Menschheit. Sein Kollege Paul Natorp sah im Krieg den »Tag der Deutschen« nahen. Er stand der Freideutschen Jugend nahe, einem Teil der deutschen Jugendbewegung, der sich 1913 auf dem Hohen Meißner zum Geist des deut­schen Idealismus bekannt hatte. Im Juli 1914 feierten deutsche und österreichische Wander­vögel bei Passau ihre Kampfbereitschaft fürs Vaterland.

1917 setzte der Wandervogel-Autor Walter Flex mit seiner Erzählung »Der Wanderer zwischen beiden Welten« seinem toten Kameraden Ernst Wurche ein Denkmal, das bald zum Kultbuch der gebildeten deutschen Soldaten wurde und wie kein anderes Dokument die Hinwendung der einstmals rebellischen, zivilisationskritischen Jugend­bewegung zum Krieg der deutschen Eliten um die Weltmacht festhält. Am längsten, bis in die 1970er Jahre hinein, wirkte das Lied nach, mit dem Flex sein »Kriegserlebnis« beginnen ließ, und das er angeblich im März 1915 in einem nächtlichen Schützengraben im Maastal gedichtet hatte:

Wildgänse rauschen durch die Nacht / Mit schrillem Schrei nach Norden – / Unstete Fahrt! Habt Acht, habt Acht! / Die Welt ist voller Morden.

Fahrt durch die nachtdurchwogte Welt, / Graureisige Geschwader! / Fahlhelle zuckt und Schlachtruf gellt, / Weit wallt und wogt der Hader.

Wir sind wie ihr ein graues Heer / Und fahr’n in Kaisers Namen, / Und fahr’n wir ohne Wiederkehr, / Rauscht uns im Herbst ein Amen!

Wer es mitsang, fügte sich in der ersten Strophe in die »Welt voller Morden« und bekannte sich in der letzten zu Soldatentum und Soldatentod, ohne zu begreifen, dass das Morden nirgendwo anders herkam als aus dem eigenen Gewehrlauf und sofort aufhörte, wenn man nur aufhörte zu schießen. Ein weiteres Soldatenlied mit langer Wirkung entstand fast gleichzeitig: Hans Leip dichtete 22jährig seine Zeilen über »Lili Marleen«, die aber erst im nächsten Weltkrieg, 1941, vertont und international bekannt werden sollten.

Flex‘ Ich-Erzähler berichtet, wie er zusammen mit dem evangelischen Theologiestudenten Wurche von der Front abkommandiert und zum Leutnant ausgebildet wurde. Eine hellsichtige Anekdote zum Einstieg:

Zur gleichen Zeit wie wir sollte ein Kommando von Berufsschlächtern, die zur Verwendung in der Heimat aus der Truppe gezogen waren, den Ort verlassen. Während wir nun in Reih und Glied, des Marschbefehls gewärtig, vor dem Pfarrhaus standen, trat ein Major an uns heran und rief uns von weitem zu: »Seid Ihr die Metzger, Kerls?« und ein Chorus von beleidigten und vergnügten Stimmen antwortete: »Nein, Herr Major, wir sind die Offiziersaspiranten!«[25]

Da bestand offenbar Verwechslungsgefahr. In der Figur Wurches traf oder erfand Flex den idealen deutschen Soldaten und Offizier; sein häufigstes Attribut war »hell«. Wurche hatte drei Bücher im Gepäck: Goethes Gedichte, »den Zarathustra« (d. h. Nietzsches Schrift »Also sprach Zarathustra«) und das Neue Testament.[26] Flex: »Sein Christentum war ganz Kraft und Leben… Sein Gott war mit einem Schwerte gegürtet, und auch sein Christus trug wohl ein helles Schwert…«

Die meisten evangelischen und katholischen Theologen begrüßten den Krieg als »Volks­ver­jünger«, als Waffe gegen die individualistische »Nörgel­sucht« und den alle Sitten und Traditio­nen bedrohenden »Kosmopolitismus«, eine den Kirchen unangenehme Begleit­erscheinung des technischen und wirtschaft­lichen Fort­schritts. Im evangelischen Raum verstieg man sich sogar zur Konstruktion eines neuen Christentums, das sich mit dem deutschen Wesen verbinde und durch den Mund des deutschen Kaisers spreche, um – getragen von deutschen Bajonetten und deutschen Artilleriegranaten – die Welt erneut zu erobern. Christen im Kriege, ein Kapitel für sich! Unter den Deutschen war »Adieu!« (wörtlich: »zu Gott!«) bis 1914 der geläufigste Abschiedsgruß. Doch die antifranzösische Sprachpropaganda machte nach Kriegsausbruch Front gegen den Gottesgruß: »Fort mit dem welschen Gruß ‚Adieu‘! Wir grüßen deutsch: ‚Auf Wiedersehn‘!« Mit nachhaltiger Wirkung.[27] 1916 veröffentlichte der Germanist Eduard Engel sein Verdeutschungsbuch »Sprich Deutsch! Ein Buch zur Entwelschung«. 1955 wurde es von L. Mackensen neu herausgegeben.[28]

Der Nationalökonom und Soziologe Werner Sombart demonstrierte 1915 mit seiner Schrift »Händler und Helden«, dass völkisches Gedankengut durch den Krieg vom rechten Rand mitten ins Zentrum des deutschen Geisteslebens gerückt war – bei Sombart mit durchaus nachhaltiger Wirkung. Der Krieg erschien Sombart als gerechte Prügelei zwischen einem miesen und einem guten Charakter: hier die kleinliche Krämerseele der Eng­länder und Franzosen, nur auf ihren egoistischen Vorteil bedacht, dort der deutsche Held mit seinem auf der Welt einzigartigen Gefühl für das Wahre und Große, als Angegriffener selbstlos um die Fahne geschart, im Kampf um seine Selbstbehauptung, aber auch, um die vom russi­schen Zarismus unterjochten Völker zu befreien. Thomas Mann trieb diese Dichotomie, diese Einteilung der Welt in Schwarz und Weiß, noch 1918 in seinen »Betrachtungen eines Unpoliti­schen« weiter:

»Der Unterschied von Geist und Politik enthält den von Kultur und Zivilisation, von Seele und Gesellschaft, von Freiheit und Stimmrecht, von Kunst und Literatur; und Deutschtum, das ist Kultur, Seele, Freiheit, Kunst und nicht Zivilisation, Gesellschaft, Stimm­recht, Literatur.«[29]

Was diese Deutschen an der Zivili­sa­tion störte, war das Zivile, das Unmilitäri­sche, und was sie an Gesellschaft und Stimmrecht störte, war die Gewaltlosigkeit, die Abwesenheit von Herrschaft und Gefolgschaft in diesen Begriffen.

Ein weiterer Schlüsselbegriff war »Selbstbehauptung«. Das Wort trug die geopolitische Idee vom »Lebensraum« in sich, jenen Raum in der Mitte Euro­pas, den die Deutschen nach ihrer Natur, wie es hieß, zum Leben brauchten, und der ihnen – so das ständige deutsche Lamento – teilweise von anderen Völkern vorenthalten wurde. Leben bedeutete in diesem Zusammenhang Beherrschen. Diese Herrschaft wurde seit Ende des 19. Jahrhunderts gerade in Deutschland gerne sozial­darwinistisch gerechtfertigt: Als besonders tüchtiges Volk setzen sich die Deutschen im natürli­chen Lebenskampf gegen andere, schwächere Völker durch und haben dann auch das »natürliche Recht«, diese Völker zu unterdrücken und sich deren Ressourcen anzueignen. Was jahrzehntelang gepredigt worden war, sollte nun auf den Schlachtfeldern in Nordfrankreich und Westrussland endlich Wirklich­keit werden.

Manche ereilte schon zwei Monate nach Kriegsausbruch der Kater; so den Dichter und Schriftsteller Bruno Frank, der im August noch frohlockt hatte, dass er jung und gelenk nach Westen und Osten marschieren durfte. In seiner 1928 erschienenen »Politischen Novelle« ließ er den Helden Carmer im Rückblick mit sich selbst ins Gericht gehen:[30]

Die Vernunft hatte nicht standgehalten! Alle lebenslang geübte Klarheit, Nüchternheit und Kritik war zum Teufel gegangen vor dem Anprall einer tobenden Stunde. Wie der Letzte und Dumpfeste, blind und taub, hatte er geglaubt und gewütet, mit hochrotem Kopfe – o ewige Scham! – hatte er auf einem öffentlichen Platz mit der fanatisierten Menge geschrien und die Arme geschwenkt, er, der doch wusste, was Krieg bedeutete und wie er entstand: nicht aus einem Zusammen­prall von Edelmut und Gemeinheit wahrhaftig, sondern aus ganz unheroischen Tatsachen von trister Greifbarkeit, über die man bunte Tücher deckte, um das Volk zu verführen.

Doch bei anderen erwies sich der »Geist von 1914« als sehr haltbar. Noch 1951 schrieb der liberale Histori­ker Friedrich Meinecke, damals Rektor der Freien Universität Berlin, seinem deutschnationalen Kolle­gen Hans Rothfels  zu dessen 60. Geburtstag in die Festschrift: »Es entsprach unse­rer gemeinsamen Grundgesinnung in den Anfängen des ersten Weltkriegs, alle Kräfte des deut­schen Geistes zusammenzufassen, um dem Kampf um unsere Selbstbehauptung zu dienen.«[31] Sämtliche deutschen Aggressionen wurden dadurch per se für »präventiv« erklärt, also zu reinen Verteidigungsakten. Rothfels war 1914 Offizier und verlor in jenem Kampf um die deutsche Selbstbehauptung auf französischem Boden ein Bein. Er schrieb viele Bücher über Bismarck und spielte in den 50er und 60er Jahren eine wichtige Rolle bei dem Versuch der westdeutschen Historikerzunft, die deutsche Verant­wor­tung für den I. Weltkrieg weiterhin im Nebel zu halten.

Max Beckmann brach im August 1915 unter seinen grauenhaften Kriegs­erlebnissen psychisch zusammen und wurde als Soldat entlassen.

VI. Maas und Marne

Wie es der Schlieffenplan vorgesehen hatte, brach der größte Teil des deutschen Heeres, etwa 700.000 Mann, vom 4. August an in Belgien ein, um über Lüttich (Liège), Namur, Maubeuge, St. Quentin, Compiègne von Nordosten her auf Paris vorzustoßen. Die im Südteil der Front, vom damals zu Deutschland gehörenden Lothringen und Elsaß aus, vorrückenden Armeen waren deutlich schwächer, und die in Ostpreußen gegen die Russen aufgestellte 8. und letzte Armee war noch schwächer. Die französische Front mit ihrem schwer zu bezwingenden Festungsgürtel an der oberen Mosel (Verdun, Toul, Epinal, Belfort) sollte so in einem riesigen Bogen von Norden her umschlossen und letztlich eingeschlossen werden. Die Vision der Umfassungsschlacht von Cannae, in der die Karthager unter Hannibal im Jahre 216 vor Chr. die Römer im eigenen Land vernichtend geschlagen hatten, stand beim Schlieffenplan Pate und sollte hier ins Gigantische gesteigert werden. Man hat jedoch den Eindruck, dass die verantwortlichen Generäle sich nicht recht klargemacht haben, dass die sechs- bis sieben­hundert Kilometer nach Paris in wenigen Wochen zu Fuß zurückgelegt werden mussten, mit vollem Marschgepäck.

Die ersten, die ihnen einen Strich durch die Rechnung machten, waren die Belgier. Sie wehrten sich gegen die übermächtigen Invasoren. Als am 6. August nach tagelangem Artilleriebeschuss die Festung Lüttich an die Deutschen fiel, waren sie bereits aus dem Zeitplan, und jeder Tag Verzögerung bedeutete, dass mehr englische Soldaten und Waffen in Frankreich landeten. Eine von General­major Erich Ludendorff geführte Infanteriebrigade eroberte die Zitadelle von Lüttich. Ludendorff bekam den Orden Pour le Mérite und ließ sich als »Held von Lüttich« feiern. In Plakaten feierte die deutsche Armee ihren Sieg über Lüttich als Frucht der neuen Kruppschen Riesengranaten vom Kaliber 42 cm. Am #. August fiel Brüssel; bis zum 25. August war der größte Teil Belgiens erobert. Die belgische Armee wich nach Antwerpen aus, doch in Lüttich und anderen belgischen Städten regte sich Volkswiderstand gegen die deutschen Besatzer. Zum ersten Mal wurde die deutsche Armee mit Ansätzen eines Partisanenkrieges konfrontiert, und sie reagierte schon damals so, wie es im II. Weltkrieg zur gängigen Praxis der Wehrmacht werden sollte: mit Mas­sakern und Brandschatzungen. In Andenne wurden am #. August 110 belgische »Franktireurs« standrechtlich erschossen. In der alten flämischen Universi­täts­stadt Leuven brannten die Deut­schen am #. August über 2000 Häuser der Altstadt nieder, darunter die Kathedrale und die Akademie der schönen Künste; zahllose wertvolle Gemälde wurden zerstört. 209 Einwohner wurden an die Wand gestellt und erschossen. In Dinant töteten deutsche Invasionstruppen 674 Zivilisten und zerstörten rund 1200 der 1800 Häuser der Stadt. Insgesamt töteten deutsche Soldaten im August und September in Belgien 5521 Zivilisten bei Massakern, in Nordfrankreich weitere 906.[32]

Die Gräueltaten der deutschen Besatzung in Belgien wurden im September von der britischen und französi­schen Presse weltweit angeprangert. Die Kriegs­propaganda der Entente stellte die Deutschen auf Plakaten und Bildpost­karten als »Hunnen« dar, Kaiser Wilhelm II. als Wiedergänger Attilas – in Anspielung auf Wilhelms berüchtigte »Hunnenrede« vom Juni 1900.[33] Im Gegenzug verbreitete die Oberste Heeresleitung in Deutschland Falschmeldungen über angebliche Gräueltaten belgischer und franzö­sischer Parti­sanen an deutschen Soldaten. 3016 der insgesamt etwa 5000# deut­schen Hochschullehrer veröffent­lichten im September eine Erklärung, in der sie ihrer inter­na­tional in Verruf gerratenen Regierung tapfer beiseite sprangen. Zitat# Im Oktober folgte ein »Aufruf der 93« an die »deutsche Kulturwelt«. 93 hochrangige und teilweise weltberühmte Ver­treter des deutschen Geisteslebens, darunter der Chemiker Fritz Haber, der Biologe Ernst Haeckel, die Physiker Max Planck und Wilhelm Röntgen, der Maler Max Liebermann, der Kom­ponist Engelbert Humperdinck, der Schriftsteller Gerhart Hauptmann, der Regisseur Max Reinhardt, der Philosoph Rudolf Eucken, der Nationalökonom Lujo Brentano gaben der Welt kund und zu wissen: Zitat#: Dokumente zur dt. Gesch. 1914-1917, hg. v. D. Fricke, Berlin 1976, Nr. 20 (auch bei Röderberg Frankfurt ersch.)

Unterdessen waren die russischen Grenztruppen erheblich schneller aktiv geworden, als Schlieffen und sein Nachfolger Moltke das vorgesehen hatten. Mitte August brachen zwei russi­sche Armeen in Ostpreußen ein und schlugen die schwachen deutschen Verteidi­gungskräfte in die Flucht. Zwei weitere stießen in Österreich-Ungarns nordöstliche Provinz Galizien vor, das Gebiet um Lemberg (heute Lwiw), das heute überwiegend zur Ukraine gehört. Große deutsche Siedlungsgebiete mit den Städten Tilsit, Insterburg und Allenstein und etwa # Einwohnern, darunter etliche urpreußische Großagrarier mit ihrem Anhang, gerieten fast kampflos in russische Hand. Um den für Deutschland peinlichen russischen Triumph zunichte zu machen, musste Moltke aus dem starken rechten Flügel der Westfront zwei Armee­korps abziehen und nach Ostpreußen schicken. zum faktischen Kommandeur der 8. deutschen Armee setzte Moltke am 21. August Generalmajor Erich Ludendorff ein. Da Ludendorff noch nicht dienstalt genug war, um ein selbst­ständiger Armeekommandeur zu werden, setzte der Generalstab den pensionierten General Paul von Hindenburg als seinen formellen Vorgesetzten ein. Hindenburg qualifizierte sich mit seiner Ideenarmut und seiner phegmatischen Natur für diesen Job, denn er musste den exzentrischen Sanguiniker Ludendorff als rechte Hand und Ideengeber aushalten. Ludendorff überzeugte Hinden­burg von dem Wagnis, mit unterlegenen Kräften die Armee Samsonows bei Tannenberg anzugreifen, ehe sie sich mit der Armee Rennenkampfs vereinigt hatte. Samsonows Armee wurde erfolgreich eingekesselt und vernichtet, 50.000 Russen kamen ums Leben, 90.000 gerieten in Gefangenschaft. Die Armee Rennenkampfs griff nicht in die Schlacht ein, obwohl sie teilweise nur 20 km vom Geschehen entfernt lagerte. Schuld war ein Zerwürfnis zwischen den beiden Generalen. Einige Tage später schlug Luden­dorffs Armee auch die Armee Rennenkampfs im Gebiet der Masuri­schen Seen, wobei weitere 40.000 Russen umkamen. Rennenkampf gelang jedoch mit dem Rest der Armee ein erfolgreicher Rückzug.[34] Hier, auf kleinem Raum, war das Modell Cannae erfolgreich. Es war die erste und zugleich vorletzte klassische Schlacht des Krie­ges.

Eine gewaltige Propagandakampagne machte den »Sieg von Tannenberg« publik und begrün­dete jenen bis 1945 wirksamen Mythos vom deutschen Soldaten als dem »besten der Welt«. Bei Walter Flex nahm »der Schatten Hindenburgs« oder auch dessen »fabelhafter Feldherrnkopf« die Züge eines Rübezahl oder Barbarossa an.[35] Die Popularität Hindenburgs als angeblich genialer Feldherr und Retter Ostpreußens wirkte lange über seinen Tod 1934 hinaus. Noch heute sind zahlreiche Straßen und Plätze sowie die Land­verbindung der Insel Sylt nach diesem Offizier benannt. In der Gesamtsicht des Kriegsverlaufs war Tannenberg gar kein Sieg, sondern nur die Aufhebung einer peinlichen Niederlage. Durch Tannenberg war der Status quo an der deutschen Ostfront wiederhergestellt, und das ganz einfach auf Kosten des Aufmarsches gegen Frankreich. Die betroffenen Gebiete Ostpreußens waren die einzi­gen deutschen Gebiete, die im I. Weltkrieg durch Kriegs­handlungen verheert wurden.

Wie stark die Kriegsereignisse das Familienleben der Deutschen und damit auch das Leben vieler Kinder prägten, mag eine Tagebuchnotiz des 13jährigen Augsburgers Heinrich Himmler vom 26. August 1914 illustrieren: »Mit Falk im Garten gespielt. 1000 Russen von unseren Truppen östlich der Weichsel gefangen. Vormarsch der Österreicher. Nachmittags im Garten gearbeitet. Klavier gespielt. Nach dem Kaffee besuchten wir Kissenbarths. Wir durften bei ihnen Zwetschen vom Baum pflücken. Schrecklich viele sind gefallen. Wir haben jetzt 42-cm-Kanonen.«[36]

Unterdessen konnten die deutschen Truppen im Westen die sog. Grenz­schlachten vom 20. bis 25. August an der belgisch-französischen Grenze zwar für sich entscheiden, aber es gelang nicht wie geplant, größere Teile der französischen Armee und des britischen Expeditionskorps gefangen­zunehmen. Stattdessen wichen die Gegner geordnet nach Süden aus. Die 1. und 2. deutsche Armee stießen weit nach Süden vor, doch schon am 4. September war Moltke klar, dass sie – spä­testens nach der Abgabe zweier Armeekorps an die Ostfront – zu schwach und auch bereits zu erschöpft waren, um jetzt noch die riesige Festung Paris im weiten Bogen westlich umgehen und einschließen zu können. Der deutsche Feldzug im Westen schlug bereits nach wenigen Wochen vollkommen fehl. Moltke hatte den Verteidigungsflügel in Lothringen auf Kosten des Angriffsflügels in Belgien gestärkt und den Weg der nördlichen Angriffszange verkürzt. Für den Fall, dass die nördliche Angriffsarmee an ihrer nordöstlichen Flanke angegriffen wurde, gab es keinen »Plan B«.

Die Franzosen hatten – auf Befehl von General Joseph Joffre –  Truppen aus der lothringischen Front abgezogen und nörd­lich von Paris aufgestellt. Als das Gros der 1. deutschen Armee am 5. September etwa 40 km östlich von Paris die Marne überschritt, griffen die Franzosen nördlich von Paris die lange deutsche Flanke an. Es begann die Marneschlacht, die sich über rund 200 km Front zwi­schen Paris und Verdun erstreckte. Die 1. Armee musste sich ein Stück nach Norden zurück­ziehen, um den Angriff auf ihre Westflanke abzuwehren.[37] Als britische Truppen über die Marne hinweg nach Norden vorstießen, unterbrachen sie die Verbindung zwischen 1. und 2. deutscher Armee und zwangen so auch die 2. Armee zum Rückzug nach Norden. An der Aisne gruben sich beide Sei­ten in Schützengräben ein, der Bewegungskrieg erstarrte zum Stellungskrieg. Die deutsche Strategie gegen Frankreich war gescheitert, die Franzosen bejubelten das »Wunder an der Marne«. – Unter den vielen Toten waren der 27jährige westfälische Maler August Mackeund der jüdische SPD-Reichstagsabgeordnete Ludwig Frank. Der aus Westpreußen stammende 48jährige Heimat­schriftsteller Hermann Löns und der 25jährige expressio­nistische Dichter Alfred Lichtenstein wurden bei Reims getötet.

Am 9. September meldete Moltke klarsichtig: »Majestät, wir haben den Krieg verloren!« Zur Strafe für das ehrliche Überbringen der schlechten Nachricht setzte ihn der Kaiser auf Druck von Reichskanzler Bethmann Hollweg sofort ab.[38] Der schlaue Ludendorff merkte sich Moltkes Schicksal gut und schaffte es, diesen »Fehler« vier Jahre lang zu vermeiden. Als er Ende September 1918 ebenfalls endlich die Kriegsniederlage melden musste, wurde auch er sofort abgesetzt.

VII. Flandern und Galizien

An der militärischen Misere konnte auch Moltkes Nachfolger Erich von Falkenhaynnichts ändern. Er sollte als Spezialist für besonders sinnloses Blutvergießen in die Geschichte eingehen, und begann auch gleich ein solches in Flandern. Franzosen und Briten versuchten dort im Oktober, der deutschen Aisne-Front von Nord­westen her den Nachschub abzu­schneiden. Die Deutschen führten im Gegenzug Massen von jungen Frei­willigen­verbänden heran, darunter viele patrio­tisch begei­sterte Ober­schüler und Studenten, um jetzt doch noch von Norden her nach Paris oder zumin­dest zu den Kanalhäfen Dunkerque (Dünkirchen), Boulogne und Calais zu gelangen, über die die Briten ihren Nach­schub bezogen. Beides gelang nicht, auch hier bildete sich entlang der bel­gisch-französischen Grenze rasch eine starre Frontlinie der Schützengräben. Zu Tausenden wurden im November 1914 die jungen Freiwilligen über weite Felder und Wasser­gräben hinweg ins Maschinengewehrfeuer gejagt, bis keiner mehr lebte. Unter ihnen waren auch der 31jährige elsässische Publizist und expressionistische Dichter Ernst Stadler und Peter Kollwitz, der Sohn von Käthe Kollwitz. An seinem Grab auf dem Soldatenfriedhof Vladslo errichtete die Mutter später ihre berühmte Doppel­skulptur des trauernden Elternpaares. In der deutschnationalen Propaganda feierte man dagegen noch Jahrzehnte später den »Heldenmut« der 15.000 Schüler und Studenten, die bei Lange­marck und Ypern mit dem Deutschlandlied auf den Lippen gestürmt haben sollen, ehe sie verbluteten.

Der Schriftsteller Ludwig Renn  hat noch im Krieg, an der Front, einen der weni­gen Überlebenden getroffen und berichtete 1929, was der ihm erzählt hatte:[39]

»Ich war bei einem der Freiwilligenregimenter, die 1914 unter Gesang gestürmt haben sollen. Das zu verbreiten war nicht gefährlich, denn es sind nicht viele zurückge­kom­men, die die Wahrheit hätten sagen können. – Selbst war ich ja nicht Kriegs­freiwilliger. … Wir fuhren mit einem Transportzug hinaus nach Flandern. … Plötzlich ein wüster Krach ganz nah. Wir ans Fenster. Neben dem Zug auf dem Felde steht so eine schwarze Wolke, rund und ziemlich hoch. – Ramms! Wieder steht so ’ne Wolke da. Der Zug bremst. Die Räder quietschen.

»Alles heraus! Ausschwärmen!« brüllt ein Offizier. Wir das Gepäck am Riemen genommen. Einem fiel dabei die Stiefelbürste aus dem Tornister; den hatte er in der Eile nicht zugeschnallt. Wie er sich bückt und die Bürste in die Tasche stecken will, erwischt’s ihn. … Der Krankenträger Lehmann hat mir später erzählt, daß er ein paar Tage lang phantasiert hat und immer die Bürste in seine Tasche hat stecken wollen.

Am Nachmittag wurden wir dann eingesetzt. So, weißt du, in der gewöhnlichen Art: Sturm, in dieser Richtung, los! Wir haben nicht gewußt, wer uns gegenüberlag und wo wir sind. Und gesehen haben wir nur leere Felder. Da sind wir losgerannt. Um uns haben die Kugeln gepfiffen. Dann haben wir uns hin­geschmissen und haben geschossen, wie wir das so gelernt hatten: geradeaus! Vielleicht trifft’s einen. – Bis dahin hatte unsere Artillerie keinen Schuß abgegeben. Jetzt kam es von hinten vorgezischt und schlägt mit zwei Granaten dicht vor unsere Linie. Ich denke mir, jetzt werden sie das Feuer vorver­le­gen. Da kommen die nächsten Schüsse: dicht hinter die Linie. Verflucht! denke ich. Und gut haben sie geschossen!

»He, Sie!« höre ich jemand brüllen. »Hinterrennen zur Artillerie! Sie schießt auf uns!«
Über den weichen Acker stolpert einer in Todesangst hinter [von der Front weg nach hinten, J. K.].
Schuß auf Schuß setzt unsre Artillerie in unsere Schützenlinie.
»Spielmann!« brüllte die Stimme wieder. »Ist kein Spielmann da? Blasen! Daß sie mer­ken, daß wir’s sind!«
Ein paar Töne stockerten aus dem Horn.
Von vorn zirpten die feindlichen Kugeln. Von hinten stampfte unsre Artillerie.
»Singt!« brüllte die Stimme. »Singt: Deutschland, Deutschland über alles!«
Zwei, drei Stimmen sangen dünn. Dann wurden es mehr. Wir sangen doch um unser Leben! Aber wir lagen auf dem Bauch und – Fatschbumm! – schlugen die Granaten ein. Da ging uns immer der Atem aus, wenn’s einschlug. Gebrüllt habe ich, was ich konnte. Aber unsre Artillerie hatte nichts davon gehört. Die schoß und schoß. Die Verwundeten wimmerten. Da und dort tauchte der Gesang wieder auf, immer hoffnungsloser: Deutschland, Deutschland über alles. – Seitdem habe ich das nie mehr mit­gesungen! – und ein paar Tage später, – wir waren nur noch so wenige, daß unsere ganze Kompagnie in einer Bauernstube lag, – da bringt einer den Heeresbericht und liest vor: »Mit pracht­vollem Schwung stürmten deutsche Freiwilligenregimenter unter dem Gesang von »Deutschland, Deutschland über alles!«

Die österreichisch-ungarische Armee stand im August 1914 vor einem ganz ähnlichen Zwei­frontenproblem wie die deutsche: im Süden wollte man Serbien per »Blitzkrieg« erledigen, im Nordosten, dem von Polen und Ukrainern bewohnten Galizien, musste man einen russischen Einmarsch verhindern. Das misslang hier noch gründlicher als in Frankreich und Ostpreußen. Conrad von Hötzendorf schickte das Gros seiner Armee gegen Serbien, da auch er den Russen keinen schnellen Angriff zutraute. Als die Russen unerwartet rasch und heftig in Galizien ein­brachen, zog er – genau wie Moltke – Truppen aus der Südfront ab, um sie 500 km weiter nörd­lich in Galizien einzusetzen. Dadurch kam der Vormarsch gegen Serbien zum Stillstand, zumal die Serben – in langen Kämpfen gegen die Türken geschult – ihr Land zäh verteidigten. In Österreich-Ungarn war die Eisenbahn nicht so leistungsfähig wie in Deutschland, die von Süden abgezogenen Truppen waren zu lange unterwegs, um Galizien noch »retten« zu können. Öster­reich-Ungarn verlor 300.000 Mann an Toten, Verwundeten und Gefangenen, ein Schlag, von dem sich die kaiserliche und königliche Armee nicht mehr erholte. Erst auf den Höhen der Kar­paten konnte der russische Vormarsch gestoppt werden. – Der österreichische Militärapotheker und Dichter Georg Trakl erlitt durch seine Kriegserlebnisse in Gródek (Galizien) einen schweren Nervenzusammenbruch. Im Lazarett in Krakau verfasste er noch einige Verse über Gródek:

Am Abend tönen die herbstlichen Wälder / Von tödlichen Waffen…
Alle Straßen münden in schwarze Verwesung.

Am 3. November beging Georg Trakl 27jährig Suizid.

Mitte September 1914 war der Krieg praktisch entschieden. Schlieffens Plan war insofern rea­listisch gewesen, als er die einzige Chance für einen deutschen Sieg in einem schnellen Sieg über Frankreich gesehen hatte. Nachdem auch das nicht gelungen war, gab es in der Tat für Deutschland keine weitere Chance mehr, den Krieg zu gewinnen. Je länger der Krieg dauerte, desto stärker musste die materielle Überlegenheit der Briten, Franzosen und Russen ins Gewicht fallen. Deut­lich wurde diese Überlegenheit schon damals in der britischen Seeblockade, die Deutschland von den meisten Einfuhren abschnitt. Die britische Marine war stark genug, um den Kanal und die Nordsee zwischen Schottland und Norwegen weiträumig abzusperren, und die deutsche Marine, deren Aufbau so ungeheure Geldmittel verschlungen und die politischen Beziehungen zu Groß­britannien so nachhaltig vergiftet hatte, lag macht- und tatenlos in den Häfen. Sie hätte nur ausgereicht, um eine unmittelbar in der Deutschen Bucht gezogene Blockade zu durchbrechen.

Obwohl mit einer Seeblockade zu rechnen gewesen war, gab es in Deutschland kaum nen­nens­werte Nahrungsmittelvorräte. Das lag daran, dass der Getreide­export zugunsten der deut­schen Großagrarier vom Staat indirekt subventioniert wurde. Die deutsche Getreideernte deckte 1913 etwa 90% des Bedarfs. Pflanzliche Fette und Milchprodukte wurden zum größten Teil importiert. Ein längerer Krieg mit Seeblockade musste also unweigerlich eine katastrophale Hungersnot heraufbeschwören. Eine industrielle Kriegs­vorbereitung, vor allem eine zentrale Erfassung und Verteilung von Arbeitskräften und Rohstoffen für die Rüstungs­produktion, gab es 1914 zunächst überhaupt nicht. Die ersten Ansätze einer von staatlichen Stellen und Groß­unternehmern gemeinsam betriebenen zentralen Planung begannen Mitte August, und wirksam wurden sie erst, als alle Illusionen vom Herbst­spaziergang deutscher Offiziere auf den Pariser Boulevards verflogen waren. Einer der wichtigsten Männer der Kriegsrohstoffplanung war der AEG-Direktor Walter Rathenau.

Generalstabschef v. Falkenhayn wusste das alles sehr genau. Ende November, nach dem Scheitern der deutschen Angriffe in Flandern, sagte er dem Zentrumspolitiker Matthias Erzber­ger, der Krieg sei »eigentlich verloren«. Gegen­über Bethmann Hollweg bezeichnete er die deut­sche Armee, die inzwischen auf 50 % ihres Bestandes geschrumpft war, als »zerbrochenes Instrument«. Der Kanzler jedoch war gerade von einem Besuch bei Hinden­burg und Ludendorff in Ost­preußen zurückgekehrt und hatte sich von deren Großsprecherei anstecken lassen; deshalb empfand er Falkenhayns Einschätzung als Miesmacherei. Die Tannen­berger nämlich glaubten, mit genügend Truppen, die man von der Westfront abziehen solle, könnten sie Russland in kurzer Zeit »erledigen«; sie wollten den Schlieffenplan also einfach umkehren. Falkenhayn hielt nach seiner Erfahrung mit der englisch-französischen Kampfkraft in Flandern dagegen, dass auch ein deutscher Sieg über Russland den Krieg nicht entscheiden würde; die Ent­scheidung könne nur in Frankreich fallen.

Dass Kaiser Wilhelm II., Reichskanzler v. Bethmann Hollweg und General­stabschef v. Falkenhayn trotz alledem den Krieg fortsetzten und noch Millionen von Menschen in einen selbst vor der Staatsräson sinnlosen Tod schickten, war nach der Entfesselung des Krieges ihr zweites großes Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Freilich hatten sie insofern keine andere Wahl, als ein Eingeständnis der Niederlage zu diesem Zeitpunkt ihren Sturz und den Untergang der herrschenden Kaste in Deutschland hätte herauf­beschwören können. Sie waren längst Gefangene ihrer eigenen Propa­ganda­lügen.

VIII. Kriegsziele

Da es mit dem Kriegführen nicht so gut klappte, verlegte man sich im September 1914 auf das Formulieren von Kriegszielen. Vorneweg der Alldeutsche Verband, dessen Vorsitzen­der, der Rechtsanwalt Heinrich Claß, nach Absprache mit den Schwerindustriellen Gustav Krupp v. Bohlen, Hugo Stinnes und dem politi­sierenden Krupp-Direktor Alfred Hugenberg der Reichsregierung Ende August eine Denkschrift mit den wich­tigsten Kriegszielen der deutschen Schwerindustrie und der preußischen Großagrarier vorlegte. Für die eher exportorientierte deutsche Elektroindustrie und die mit ihr eng verbundene Deut­sche Bank legten AEG-Direktor Rathenau und Deutsche-Bank-Direktor Arthur v. Gwinner etwas differierende Vorstellungen vor. Ganz einfach war die Sache für den saarländischen Koh­lenbaron Hermann Röchling. Der forderte am 31. August von der Regierung die sofortige Anne­xion des französischen Erzbeckens von Longwy-Briey. Der Ruhrindustrielle Albert Vögler begründete das 1917 in einem Brief an Reichskanzler Michaelis: »Unser [Erz]Bedarf aus Deutschland gedeckt für höchstens 60 Jahre; mit Briey um 40 Jahre länger. Frankreich hat für 600 Jahre Erz.«[40] Sein Fachkollege August Thyssen interessierte sich dagegen mehr für die Manganerze im Kaukasus.

Die Kriegsziele der Alldeutschen sahen Annexionen vor, vor allem in Belgien, Nordfrankreich, Polen, Litauen und Kurland (dem südlichen Lettland). Die Bevölkerung der annektierten Gebiete im Osten sollte vertrieben werden, um Platz für deutsche Siedler zu schaffen: Klein­bau­ern und Kriegsveteranen, namentlich jene Unteroffiziere, die die soziale Basis des All­deutschen Verbandes bildeten. Hier flossen Vorstellungen der im Bund der Landwirte organi­sierten ostel­bischen Großagrarier ein, die auf eine Ausweitung ihrer Rittergüter in den baltischen Raum hofften, und innen­politische Erwägungen der preußischen Konservativen: Landwirt­schaftliche Siedler im Osten sollten ein staatstragendes Gegengewicht zur wachsenden Industrie­arbeiter­schaft bilden, die dank der deutschen Sozial­demokratie als politisch unzuverlässig galt.

Demgegenüber setzten die exportorientierten Industriellen und Bankiers auf die politische und wirtschaftliche Vorherrschaft Deutschlands in einem organisierten »Mitteleuropa«, das heißt einer gewaltsam durchgesetzten Zollunion aus Deutschland, Österreich-Ungarn, Frank­reich, den Benelux-Staaten, Polen und den Balkan-Staaten. Annexionen im herkömm­lichen Sinne erschienen ihnen altmodisch und mit überflüssigen Risiken behaftet. Weiter ausgearbeitet und propagiert wurde die »Mitteleuropa«-Idee 1915 von dem Sozialliberalen Friedrich Nau­mann. Reichskanzler v. Bethmann Hollwegvermied eine klare Parteinahme in diesem Streit. Im September 1914 ließ er seinen persönlichen Referenten Kurt Riezler ein detailliertes Kriegsziel­programm ausarbeiten. Weitgehende Überein­stimmung herrschte in dem Ziel, sich auf Kosten der französischen Kolonien ein zusammen­hängendes deutsches Kolonialreich »Mittelafrika« zu unterwerfen, Frank­reich durch hohe Kriegstributionen auszubeuten und auf Jahrzehnte hinaus niederzuhalten.

Die herrschenden Kreise Österreich-Ungarns waren vor allem an einer Annexion Polens interessiert, der sogenannten austropolnischen Lösung. Bethmann Hollweg und Riezler sahen das »allgemeine Ziel des Krieges« in der »Sicherung des Deutschen Reiches nach West und Ost auf erdenkliche Zeit. Zu diesem Zweck muss Frankreich so geschwächt werden, dass es als Großmacht nicht neu entstehen kann, Russland von der deut­schen Grenze nach Möglichkeit abgedrängt und seine Herrschaft über die nichtrussischen Vasal­lenvölker gebrochen werden.« Letzteres war eine Lieblingsidee Bethmanns. Litauen, Lett­land, Estland, Polen, Rumänien, Bulgarien und auch die Ukraine sollten einen unter deutsch-österreichischer Oberhoheit stehenden, gegen Russland gerichteten Staatengürtel bilden. Zu diesem Zweck unterstützte die Reichsregierung separatistische Gruppen von Balten und Ukrai­nern mit erheblichen Geldmitteln. Die Wiener Regierung unterstützte den polnischen Offizier und späteren Diktator József Pilsudski beim Aufbau einer antirussischen polnischen Armee. Als Hitler später seinen berüchtigten Satz schrieb, er brauche die Ukraine, konnte er sich auf Bethmann Hollweg berufen. Und selbst sein Griff nach dem Kaukasus findet sich bereits 1914 in der Wunschliste August Thyssens, der sich politisch gerne vom Zentrumsmann Erzberger vertreten ließ. Letzterer ergänzte das Mitteleuropa-Konzept um den Aspekt, mit sozialen Zusagen die Arbeiterschaft besser in den siegreichen Staat einzubin­den.

Die Alldeutschen beschimpften Bethmann Hollweg, weil er ihre Annexions- und Vertreibungs­pläne im Osten nicht teilte, als »Flaumacher«. Großadmiral Alfred v. Tirpitz zerstritt sich mit dem Kanzler, weil er in England den Hauptfeind sah und vor allem die Kanalküste annektieren wollte. Darin wurde er von Gustav Krupp v. Bohlen unterstützt. Typisch für alle diese Pläne­schmiede war ein Satz Albert Vöglers in dem erwähnten Brief: »Für den Erwerb von Briey wür­den wir 10 Jahre länger Krieg führen.«[41] Ein schönes Wir. Vögler wusste, dass er sich nicht selbst in den Graben würde legen müssen.

Die deutsche Kriegszieldebatte erreichte Mitte 1915, obwohl sie der Pressezensur unterlag, einen zweiten Höhepunkt mit zwei von den Alldeutschen initiierten Petitionen an die Reichs­regierung. Im Mai forderten sechs führende Wirtschafts­verbände und im Juni 1100 Professoren, Künstler und hohe Beamte von der Reichsregierung die Errichtung eines Nachkriegs-Deutsch­lands, das von Calais bis Estland reichen sollte. Im Osten sollten große Teile der ein­heimischen Bevölkerung vertrieben werden, um Platz für deutsche Siedler zu schaffen. Balten und Polen war ein recht- und besitzloses Dasein als Wanderarbeiter auf deutschen Gutshöfen zugedacht. Solchen Vertreibungs­plänen schloss sich 1917/18 auch die Oberste Heeresleitung unter Hinden­burg an.[42] Im Juli initiierten der Historiker Hans Delbrück und der frühere Staatssekretär Bern­hard Dernburg eine Gegenpetition, der sich unter 141 anderen auch Albert Einstein, Ludwig Quidde und Max Weber anschlossen. Sie wandte sich gegen die »Einverleibung … an Selbstän­digkeit gewöhnter Völker«. Als solche konnte man Polen und Balten damals allerdings kaum bezeichnen. Die SPD-Führung protestierte zur gleichen Zeit vor allem gegen die von den Alldeutschen geforderte Unterwerfung Belgiens.

Die Aktivitäten der Kriegskritiker wurden streng überwacht. Leiter des zuständigen Referats im Generalkommando des I. Bayer. Armeekorps in München war ab Sommer 1915 der #jährige Jurist und spätere faschistische Rechtsphilosoph Carl Schmitt. Thomas Mann bat ihn vergeblich, das anonym erschienene und beschlagnahmte Buch »J’accuse – Von einem Deutschen« einsehen zu dürfen, von dem er fälschlich annahm, dass es von seinem Bruder Heinrich stammte. Seinem Tagebuch vertraute Schmitt an, wie sehr er den lebensfeindlichen preußischen Militarismus hasste und wie er sich dem »Gang der Geschichte« unterwarf, in dem jeder einzelne nur ein Werkzeug sei.[43]

In der Reichskanzlei schritt man indessen bereits zur Verwirklichung der Eroberungspläne und beschloss am 13. Juli 1915 die Annexion des sogenannten »polnischen Grenz­streifens«, in dem zwei Millionen Polen lebten. In Belgien und Polen begannen die deutschen Besatzer, Zwangs­arbeiter nach Deutschland zu deportieren und wichtige Betriebe unter deutsche Zwangsaufsicht zu stellen.[44]

IX. Kriegsgegner

Der Irrsinn blieb nicht unwidersprochen. Im Juli 1914 trafen sich in Konstanz christliche Pazifisten zu einer Tagung über die Frage, wie man den bevorstehenden Krieg doch noch abwenden könne. Während der Tagung brach der Krieg aus, und sie musste abgebrochen werden. Der britische Quäker Henry Hodgkin und der pazifistische Potsdamer Pfarrer Fried­rich Siegmund-Schultze gaben sich bei der Trennung im Kölner Hauptbahnhof das Versprechen, Krieg oder Gewalt nicht zu rechtfertigen und die Saat des Friedens und der Liebe auszusäen, egal was die Zukunft bringen würde. Aus diesem Versprechen heraus gründete Hodgkins vier Monate später mit 128 Mitstreitern in London den Internationalen Versöhnungs­bund. Der deutsche Zweig konnte erst nach Kriegsende gegründet werden. Siegmund-Schultze wurde während des I. Weltkrieges 27 Mal inhaftiert und musste während der Nazi-Zeit im Exil leben.[45]

Eine Reihe pazifistischer Schriftsteller wandte sich von Anfang an konsequent gegen das Völkergemetzel, darunter Anatole France, Hermann Hesse, Ricarda Huch, Heinrich Mann, Erich Mühsam, Romain Rolland, René Schickele und Jakob Wassermann, viele in der von Wilhelm Herzog herausgegebenen Münchener Zeitschrift »Das Forum«. Als Reaktion auf den nationalistischen »Aufruf der 93« verfassten der Berliner Mediziner Georg Friedrich Nicolai, der Physiker Albert Einstein, der Astronom und Pazifist Friedrich Wilhelm Förster sowie Otto Buek im Oktober 1914 einen »Aufruf an die Europäer«, sich als Intellektuelle nicht für die Kriegshetze missbrauchen zu lassen. Freilich blieb diese Aktion ziemlich isoliert. Der bekannte Sportreiter Kurt von Tepper-Laski gründete im November 1914 den Bund Neues Vaterland (BNV), in dem sich die pazifistische Bewegung zusammenfand. Einstein schloss sich an, der Journalist Hellmut von Gerlach, Ludwig Quidde (Vorsitzender der Deutschen Friedens-Gesellschaft), Walther Schücking (vom Verband für internationale Verständigung), Minna Cauer (Herausgeberin der Zeitschrift »Frauen­bewegung«), Helene Stöcker (»Die neue Generation«), Wilhelm Herzog (»Das Forum«), René Schickele (»Die weißen Blätter«) und viele andere. Unter dem Einfluss des BNV wandten sich auch die führenden Pazifisten in der SPD, Hugo Haase, Karl Kautsky und Eduard Bernstein, gegen Ende des Jahres 1914 immer entschiedener gegen den Krieg und setzten sich für einen raschen Friedensschluss ein – ganz anders als die von Scheidemann, Ebert und David angeführte Mehrheit der SPD-Reichstagsfraktion.

Gleichwohl weckten fast alle SPD-Zeitungen den Eindruck, als stünde die SPD-Fraktion geschlossen hinter dem Kriegskurs. Am 31. August lehnte der Parteivorstand einen Antrag Karl Liebknechts ab, Protestversammlungen gegen den brutalen Annexionskurs der Alldeutschen und für einen sofortigen Friedens­schluss einzuberufen. Um den falschen Eindruck wenigstens im neutralen Ausland – und darüber, wie man hoffte, auch in den kriegführenden Ländern – zu zerstreuen, veröffentlichten Liebknecht, Rosa Luxemburg, Franz Mehring und Clara Zetkin am 10. September in mehreren sozial­demo­kratischen Zeitungen neutraler Länder eine Erklärung, in der es hieß, die SPD-Führung spreche nicht für die gesamte SPD. Liebknecht wagte es sogar, im gleichen Monat in die neutralen Nieder­lande und von dort aus in das besetzte Belgien zu reisen, um sich über den Besatzerterror des deutschen Militärs zu informieren und umgekehrt den belgischen Sozialisten die Solidarität wenigstens eines Teiles der SPD zu übermitteln. Der SPD-Vorstand schäumte gegen diesen »Verrat«. Albert Südekum versprach einem Vertreter der Reichskanzlei, man werde Liebknecht »unter allen Umständen aus der Partei herausschmeißen«.[46]

Liebknecht war nicht isoliert. Am 21. September unterstützte eine Vertrauens­leuteversammlung der Stuttgarter SPD unter dem Einfluss Clara Zetkins seinen Anti-Kriegs-Kurs, kritisierte jedoch seine Entscheidung vom 4. August, sich der Fraktionsdisziplin zu beugen. Liebknecht nahm sich diese Kritik zu Herzen. Die nächste Abstimmung im Reichstag über Kriegskredite war am 2. Dezember 1914 fällig, und dies­mal stimmte er – als einziger – dagegen. Dabei wusste er die Mehrheit der SPD-Aktiven seines Wahlkreises Potsdam-Spandau-Osthavelland hinter sich. In der Erklärung, die er nicht vortragen durfte, die der Reichstags­präsident nicht ins Protokoll aufnahm, die man aber auf Flugblättern verbreitete, stellte Liebknecht fest: Dieser Krieg ist – besonders von deutscher Seite aus – ein imperialistischer Krieg, in dem es darum geht, andere Länder zu erobern. »Deutschland…, das Muster politischer Rückständigkeit bis zum heutigen Tage, hat keinen Beruf zum Völkerbefreier. Die Befreiung des russischen wie des deutschen Volkes muss deren eigenes Werk sein.«[47]

Im Vorfeld der Abstimmung hatte Liebknecht die übrigen Kriegsgegner in der SPD-Fraktion vergeblich zur gemeinsamen Tat aufgerufen. Hugo Haase und Georg Ledebour schlugen vor, die Kredite nur zum Teil zu bewilligen; damit sollte die Regierung gezwungen werden, den Reichstag bald aufs Neue einzuberufen. Mit 82 gegen 18 Stimmen folgte die Fraktion jedoch den bedingungslosen Kriegsbefür­wortern.

Der Ruhm von Liebknechts Heldentat verbreitete sich auch auf der anderen Seite der Schützengräben. Der französische Schriftsteller Henri Barbusse erzählte in seinem schon 1916 unter dem Titel »Le feu (Das Feuer)« erschienen »Tagebuch einer Korporalschaft« folgende Szene:[48]

Dort, an der Grabenböschung…, sehe ich jemanden sitzen… Die ruhige Stellung, in der jener Mensch nachdenklich vor sich hinblickt, hat etwas Statuenhaftes und fällt mir auf. Ich beuge mich über ihn und erkenne ihn; es ist Korporal Bertrand…
Zwei Schattenwesen schreiten nicht weit von uns durch die Dunkelheit; sie sprechen halblaut miteinander.
– Hast ’ne Ahnung, mein Lieber, statt drauf zu hören, hab‘ ich ihnen’s Bajonett in den Bauch gerannt, so fest, daß ich’s nicht wieder ‚rausziehen konnte.
– Bei mir waren’s vier in einem Loch. Ich habe sie angerufen, daß sie ‚rauskommen sollen, und jedesmal, wenn einer ‚rauskam, hab‘ ich ihm die Haut aufgeschlitzt. Es lief mir rot bis an den Ellenbogen ‚rauf. Die Ärmel kleben mir noch davon.
– Ha! fuhr der erste fort, und wenn wir das später, wenn man davonkommt, denen daheim erzählen, am Herd oder bei der Kerze, wird’s keiner glauben wollen. Ist das nicht ein Elend, was?

(…) Bertrand sagte gewöhnlich nicht viel und sprach nie von sich selbst. Jetzt aber sagte er doch:
– Drei hab‘ ich auf’m Hals gehabt. Gehauen hab‘ ich wie wahnsinnig. Ja! Wir waren wie Bestien, als wir hierhergekommen sind. In seiner Stimme klang ein unterdrücktes Zittern.
– Aber es musste sein, sagte er. Es musste sein – für die Zukunft. Er schlug die Arme ineinander und schüttelte den Kopf.
– Die Zukunft! rief er plötzlich aus wie ein Prophet. Mit welchen Augen werden die Späteren… diese Schlächtereien und diese Ruhmestaten ansehen… Und doch, fuhr Bertrand fort, sieh! Einer hat dennoch sein Antlitz über den Krieg erhoben, und es wird einst leuchten in der Schönheit und der Bedeutung seines Mutes…
Ich horchte, auf einen Stock gestützt und über ihn gebeugt, auf seine Worte; ich vernahm im Schweigen des Abends die Stimme jenes Mundes, der sich selten nur auftat. Und er sagte mit hellem Klange:
– Liebknecht!

X. Feindliche Brüder

Die Brüder Heinrich und Thomas Mann hielten sich nicht an Kaiser Wilhelms Befehl, dass Er keine Parteien mehr kenne, nur noch Deutsche. Der Weltkrieg tobte nicht nur zwischen Deutschland und Frankreich, sondern auch zwischen den beiden deutschen Schriftsteller­brüdern, und erst in den 30er Jahren, im gemeinsamen Kampf gegen die Nazi­tyrannei, sollten sie ihr vaterländisches Zerwürfnis überwinden. Auch die Freundschaft zwischen dem 29jährigen Philosophen Ernst Bloch und dem 56jährigen Soziologen Georg Simmel zerbrach im August 1914 an der Kriegsfrage. Simmel trat begeistert für den Krieg ein, Bloch entschieden dagegen.[49]

Im Juli 1914 begann Heinrich Mann, seinen Roman »Der Untertan« in Fortsetzungen in der Münchener Zeitschrift »Zeit im Bild« zu veröffentlichen. Der negative Held dieses Romans ist der Papierfabrikant Diederich Heßling, der als Student in eine schlagende Verbindung gerät, die väterliche Fabrik übernimmt, eine Arbeiterin mies behandelt und sich vor dem jungen Kaiser jubelnd in den Staub wirft. Kurz nach Kriegsausbruch wurde die Serie abgebrochen; öffentliche Kritik an den herrschenden Heßlings wurde nicht mehr geduldet. Eine russische Ausgabe erschien 1915.[50] 1916 ließ Mann einen Privatdruck fertigen, erst 1918 konnte das Buch ungehindert erscheinen. Der Autor heiratete bei Kriegsbeginn 43jährig die Prager Schauspielerin Maria Kanová und zog nach München, wo auch Thomas wohnte. Heinrichs Ehe galt in der Familie als nicht standesgemäß, und Thomas zog seine frühere Zusage, sie als Trauzeuge zu bestätigen, mit dem Hinweis auf kriegsbedingt schlechte Verkehrsverhältnisse zwischen seinem Landsitz Bad Tölz und München zurück. Viktor, der jüngste Bruder, wurde eingezogen und heiratete im gleichen August 1914.

Vor dem Krieg hatte Heinrich viele Jahre seines bis dahin recht unsteten Lebens in Frankreich gelebt, hatte die französische Kultur und Geschichte schätzen gelernt und dachte 1914 gar nicht daran, sich die Franzosen plötzlich zu Feinden zu machen. 1913 schrieb er in seinem Essay »Französischer Geist«: »Frei sein, heißt gerecht und wahr sein; heißt es bis zu dem Grade sein, dass man Ungleichheit nicht mehr erträgt… Freiheit ist die Liebe zum Leben…«[51] Mit diesem Bekenntnis grenzte er sich bereits scharf von den deutschen Nationalisten ab, die ihre »Freiheit« mit einem Bekenntnis zur Ungleichheit und einer latenten, zuweilen auch offen geäußerten Todessehnsucht zu verbinden pflegten. Walter Flex zum Beispiel erzählte in seinem Wanderer-Roman folgende aberwitzige Szene – sein Held hatte die Mutter des im Krieg getöteten Freundes Ernst aufgesucht:[52]

»Nach einer Weile des Schweigens fragte sie mich leise: „Hat Ernst vor seinem Tode einen Sturmangriff mitgemacht?“ Ich nickte mit dem Kopfe. „Ja, bei Warthi.“ Da schloss sie die Augen und lehnte sich im Stuhl zurück. „Das war sein großer Wunsch“, sagte sie langsam, als freue sie sich im Schmerze einer Erfüllung. Eine Mutter muss wohl um den tiefsten Wunsch ihres Kindes wissen.«

Fünfzig Seiten weiter trifft es auch den Helden, doch Flex lässt den Toten noch über Leben und Tod philoso­phieren:

»Sind wir nicht immerdar Wanderer zwischen beiden Welten gewesen, Geselle? (…) Was hängst du nun so schwer an der schönen Erde, seit sie mein Grab ist…? (…) Weißt du nichts von der ewigen Jugend des Todes? Das alternde Leben soll sich nach Gottes Willen an der ewigen Jugend des Todes verjüngen. Das ist der Sinn und das Rätsel des Todes.«

Lieber wanderten dieser Mütter Kinder mordend vom Leben in den Tod als friedlich von Deutschland nach Frankreich, was damals auch zwei Welten waren; das unterschied sie von Heinrich Mann.

Thomas Mann, bei Kriegsbeginn 39, stand dem herrlichen Tode näher. Zwei Jahre zuvor war seine Erzählung »Der Tod in Venedig« erschienen. Im November 1913 diagnostizierte er in einem von heftigen Depressionen geprägten Brief an Bruder Heinrich seine »wachsende Sympathie mit dem Tode, mir tief eingeboren: mein ganzes Interesse galt immer dem Verfall, und das ist es wohl eigentlich, was mich hindert, mich für Fortschritt zu interessieren.«[53]

Selber schießen und seinen Leib dem Splitter­regen aussetzen musste er nicht, aber im Herbst 1914 stellte er immerhin seinen »Kopf«, d. h. eigentlich nur seine Gedanken »einmal unmittelbar in den Dienst der deutschen Sache«.[54] Nannte er den Krieg in einem Brief an Heinrich Mann am 7. August noch eine »Katastrophe« und »Heimsuchung«, beförderte er ihn am 18. September in seinem vorerst letzten  Brief an den Bruder zum »großen, grundanständigen, ja feierlichen Volkskrieg«.[55] In einem Essay »Gedanken im Kriege« überblendete er sein Selbstbild, das Bild des Künstlers, mit dem »Bilde des Soldaten«, und erkannte dort plötzlich tiefgründig-harmonierende Farben: Wie der Soldat liebt der Künstler »ein gefährdetes, gespanntes, achtsames Leben, Schonungslosigkeit gegen sich selbst. Thomas Mann predigte im Herbst 1914 eine »soldatische Moralität«, die nichts mit Vernunft oder gar Zivilisation zu tun habe; vielmehr sei sie »ein Element des Dämonischen und Heroi­schen, das sich sträubt, den zivilen Geist als letztes und menschenwürdigstes Ideal anzu­erkennen«. Nein, Thomas Manns Mann war geistlos; was da aus dem tiefsten Grunde der »deutschen Seele« kam und durch seinen Künstler-Soldaten schweifte, mordlüstern, war Nietzsches blonde Bestie.

Und diese Bestie durfte alles. Thomas schrieb von »sittlichem Konservatismus« und rechtfertigte den hinterhältigen deutschen Überfall auf das neutrale Belgien 1915 mit einem histo­rischen Beispiel: mit Friedrichs des II. treulosem Überfall auf Sachsen 1756.[56] Nach diesen Stellung­nahmen brach der private Kontakt zwischen den Brüdern ab. Ende 1915 schlug Heinrich Mann zurück. In René Schickeles pazifistischer Zeitschrift »Die Weißen Blätter« veröffentlichte er einen Essay über Émile Zola, in dessen Biographie er viele Parallelen zu sich selbst gefunden hatte. Der 1902 verstorbene naturalistische französische Schriftsteller und engagierte demokra­tische Journalist war ein rotes Tuch für Bruder Thomas. Um die Jahrhundertwende hatten die Brüder noch gemeinsam dem konservativen französischen Schriftsteller Paul Bourget gegen den Linken Zola beigestanden. In dem Streit ging es um die Frage, ob die gesellschaftlichen Unterschiede zwischen den Menschen milieu­bedingt oder ererbt seien, und Zola hatte in seinem Romanzyklus »Die Rougon-Macquart«, gestützt auf eigene wissen­schaftliche Studien, die Milieutheorie vertreten. Jetzt aber, wo die deutsche Seele den französischen Geist mit dem Maschinengewehr bearbeitete, war der Zeitpunkt für Heinrich gekommen, sich zu Zola zu bekennen und dabei die Utopie einer idealen Republik der »Vernunft«, der »Menschlichkeit« und »Vergeistigung« zu entwerfen.[57] Mit Zola begab er sich auf den »stetigen Marsch, der Wahrheit entgegen«. Und das hieß 1915: Kampf gegen die verlogene deutsche Kriegs­propaganda, in deren Dienst sich zu allem Überfluss auch noch der jüngere und seit den »Buddenbrooks« berühmtere Bruder gestellt hatte.

Heinrich Mann begann seinen Essay mit den Sätzen:

Der Schriftsteller, dem es bestimmt war, unter allen das größte Maß von Wirk­lichkeit zu umfassen, hat lange nur geträumt und geschwärmt. Sache derer, die früh vertrocknen sollen, ist es, schon zu Anfang ihrer zwanziger Jahre bewusst und weltgerecht hinzutreten. Ein Schöpfer wird spät Mann.

Den zweiten Satz, der keinen Bezug zum Thema Zola hat, fasste Thomas – wohl zurecht – als böse persönliche Attacke auf sich auf, die mit seinen eigenen großen Ängsten korrespondierte.[58] Später bezeichnete er diesen Satz als »unmenschlichen Exzess«. Als der Essay 1931 in dem Band »Geist und Tat« neu erschien, strich Heinrich den Satz heraus, in dem er nur wenig verklausuliert seinem jüngeren Bruder ein »frühes Vertrocknen« prophezeit hatte. Doch war das nicht der einzige persönliche Angriff. Heinrich nannte die literarischen Gegner Zolas – und damit waren in der Übertragung die literarischen »Vaterlands­verteidiger« des deutschen Krieges gemeint –  »Verräter am Geist«, sie waren ihm »die unter­haltsamen Schmarotzer der Machthaber«. Er spielte sowohl auf Thomas Manns literarisches Thema des Gauklers an als auch auf dessen gesellschaftliche Stellung als Schwiegersohn des Münchener Bankiers Pringsheim.

Sechseinhalb Jahre lang haben sich die beiden Brüder nicht mehr getroffen und geschrieben, ehe sie 1922 einen mühsamen Modus vivendi miteinander fanden. Ende 1917 versuchte Heinrich eine Versöhnung, fand aber nicht den rechten Ton, und Thomas wies sein Angebot brüsk zurück. Der bewusste Satz zeigt, wie viel gekränkte Eitelkeit und Geschwisterneid auf beiden Seiten im Spiele war. Unter­dessen trieben beide ihren Streit auf der politisch-literarischen Ebene weiter und weiter. Dabei kamen krasse Gegensätze im Selbst- und Menschenbild zum Vorschein. Thomas selber brachte es 1919 auf die Formel: »Bei mir überwiegt das nordisch-protestantische Element, bei meinem Bruder das romanisch-katholische. Bei mir ist also mehr Gewissen, bei ihm mehr aktivistischer Wille.«[59]

Heinrich begleitete seinen Helden Zola auf seinem Weg zu Erkenntnissen und Maximen wie diesen: »Keine Ausnahmen darstellen, so sehr sie uns Künstler reizen.«[60] – »Die Wahrheit lieben: anders wird keiner groß. Alle ihre Mächte lieben, Wissenschaft, Arbeit, Demokratie: diese große, arbeitende Menschheit, die hinauf will… Sich als einen der ihren fühlen und als nichts weiter… Seine Zeit lieben! Wer sie nicht geliebt hat, die Romantiker etwa, geht bald niemanden mehr an.« Und dann, Originalton Zola: »Über den Lügen der sogenannten Idealisten läßt sich keine Gesetzgebung gründen. Auf Grund aber der wahren Dokumente, die wir Naturalisten herbeibringen, wird man ohne Zweifel eines Tages eine bessere Gesellschaft errichten, die leben wird durch Logik und Methode. Da wir die Wahrheit sind, sind wir die Moral.« Der Hochmut und Dogmatismus solcher Worte blieben bei Heinrich Mann unreflek­tiert.

Sein Fazit war: Literatur und Politik haben denselben Gegenstand, den Menschen, und dasselbe Ziel: seine Erhöhung. »Geist ist Tat, die für den Menschen geschieht; – und so sei der Politiker Geist, und der Geistige handle!«[61]

Als eingefleischter Egozentriker war Thomas Mann von solchen Haltungen weltenweit entfernt. Er schrieb nur über Ausnahmen, er hielt sich immer für ganz anders als die anderen, und die schwitzend arbeitende Menschheit war ihm gleichgültig, wo nicht zuwider. Hier ein Schlaglicht: Im Dezember 1917 predigte Thomas Mann im Berliner Tageblatt unter der Überschrift »Weltfrieden?«: »Wird es nicht vorderhand übrigens arm sein, unser Europa, werden die Entbehrungen, die es sich bereitete, es nicht gelehrt haben, das Simple und Natürliche köstlich zu finden und eine Mahlzeit aus Eiern, Schinken und Milch dankbarer zu genießen als irgendwelche Vomito­riums­völlerei von ehedem?« Dass, während er dies niederschrieb, Millionen von Menschen zwischen Marmelade und Kohlrüben verhungerten und von nichts anderem mehr träumen konnten als von einer simplen Mahlzeit aus Eiern, Schinken und Milch – das war dem durchgeistigten Künstler bis dahin offenbar entgangen. Und noch eins: Auf die Rückseite des Briefes, in dem Thomas Mann im Januar 1918 Heinrichs Versöhnungsangebot zurückwies, notierte Heinrich zu Thomas‘ Stichwort »Ethos«: »10 Mill. Leichen«. Auch diese hatten keinen Platz in Thomas Manns Kopf und Werk.

Deutsche Kultur 1914: Der Würzburger Schriftsteller Leonhard Frank (32) hatte mit seinem ersten Roman »Die Räuberbande« einen großen Erfolg und erhielt dafür den mit 1000 Reichsmark dotierten Fontane-Preis.  Der Prager Schriftsteller Franz Kafka (31) begann mit der Arbeit an seinem Roman »Der Prozess«. Er hielt das Fragment für misslungen und deshalb bis zu seinem Tode unter Verschluss. Der Magdeburger Dramatiker Georg Kaiser (35) hatte seinen ersten Erfolg mit der Tagödie »Die Bürger von Calais«. Der Lübecker Schriftsteller Heinrich Mann (43) begann, seinen Roman »Der Untertan« in Fortsetzungen in der Münchener Zeitschrift »Zeit im Bild« zu veröffentlichen. Rudolf Steiner gründete das erste Goetheanum in Basel. Richard Strauss’ „Festliches Präludium für Orgel und großes Orchester“ wurde in Wien urauf­geführt.

Deutsche Familien 1914: Die Königsberger Zeichnerin Käthe Kollwitz (47) verlor ihren Sohn Peter, der an der Front in Flandern getötet wurde. Heinrich Mann (43) heiratete die Prager Schauspielerin Maria Kanová (28) und zog nach München.

Deutsche Karrieren 1914: Der westpreußische Offizier Erich von Falkenhayn (54) wurde Chef des Generalstabs und löste Helmuth von Moltke d. J. (66) ab (Sept.). Der Berliner Unternehmer Walther Rathenau (48) wurde Leiter der Kriegs­rohstoff­abteilung im preußischen Kriegsministerium (Aug.).

Deutscher Friedhof 1914: Der badische Sozialdemokrat Ludwig Frank (40) wurde an der Front in Lothringen getötet (3. 9.). Der Berliner Dichter Alfred Lichtenstein (25) wurde an der Front bei Reims getötet (25. 9.). Der westpreußische Schriftsteller Hermann Löns (48) wurde an der Front bei Reims getötet (26. 9.). Der westfälische Maler August Macke (27) wurde an der Front in der Champagne getötet (26. 9.). Der Münchener Dichter und Schriftsteller Christian Morgenstern (42) starb in Meran an Tuberkulose (31. 3.). Der österreichische Dichter Georg Trakl (27) beging in einem Lazarett in Krakau Selbstmord (3. 11.).


[1]     Wörterbuch Geschichte 2, S. 678

[2]     So berichtete Graf Berchtold in einem Brief an den Grafen Tisza am gleichen Tage. WWI Archive

[3]     Übermittelt durch seinen persönlichen Referenten Kurt Riezler in dessen Tagebuch, zit. nach Craig 294

[4]     Die Britischen Amtlichen Dokumente über den Ursprung des Weltkrieges 1914-1918. Im Auftrage des Brit. Auswärtigen Amtes hrsg. v. G. P. Gooch u. H. Temperley; dt. Ausg. hrsg. v. H. Lutz, Bd. 1, Berlin 1926, Nr. 101, S. 135f.; zit. nach Gutsche/Klein/Petzold, S. 24f.

[5]     Zit. nach J. Kuczynski: Geschichte des Alltags IV, S. 454

[6]     D. Engelmann, H. Naumann: Hugo Haase. Berlin 1999, S. 24

[7]     Die Weltbühne 50/1918, S. 555 (J. Fischart)

[8]     Luxemburg, Rosa: Gesammelte Werke, Bd. 3, Berlin 1980, S. 477.

[9]     Feldmarschall Conrad v. Hötzendorf: Aus meiner Dienstzeit. Bd. 4, Wien 1923, S. 152. Zit. nach Gutsche/Klein/Petzold, S. 28.

[10]    Zit. nach Chronik der Deutschen, S. 740

[11]    Über Haase fanden m. W. kein einziges positives Wort: Gordon Craig, Karl Dietrich Erdmann, Georg Fülberth, Fritz Klein, Jürgen Kuczynski. Fritz Fischer allerdings würdigte ihn: #

[12]    „Volksfreund“ (Karlsruhe) vom 18. 7. 1914, zit. nach Liebknecht, Karl: Gesammelte Reden und Schriften, Bd. VIII, Berlin (DDR) 1966, S. 4.

[13]    Der ewige Brunnen. Ein Hausbuch deutscher Dichtung. Gesammelt u. hg. v. Ludwig Reimers. München 1955 (Nachdruck 1976), S. 458. »Morgen« und »Abend« stehen hier für Orient und Okzident, Ost und West. Mit »Asiaten« waren die Russen gemeint, obwohl Russen natürlich Europäer sind, mit »Hochlands Tapferen« die Schotten im britischen Heer, mit dem »alten Feind« die Franzosen. Auch die »Steppen«, aus denen die »asiatischen Horden« wie ein »dunkles Meer« heranbrausen, durften in diesem völkischen Kitschgemälde nicht fehlen.

[14]    Zit. nach Ulrich Grober: Das kurze Leben des Peter Kollwitz. Bericht einer Spurensuche. Die Zeit 22. 11. 1996.

[15]    Käthe Kollwitz, hg. v. R. Hinz, S. 11, 81

[16]    Lutz Görner spricht und singt: Joachim Ringelnatz. Ein Artistenleben. Live-Mitschnitt im Bonner Pantheon, 1996. CD 2000

[17]    Museumstafel dortselbst, 2006

[18]    Zit. nach Volker Ullrich: »Dazu hält man für sein Land den Schädel hin!« Die Zeit 11. 10. 1996.

[19]    Illustrierte Geschichte der Dt. Literatur V, S. 181

[20]    Ch. Kerner: Das Geheimnis einer Pfütze. Zeitläufte 23.10.2008 (ZA Meitner)

[21]    M. Beckmann: Briefe im Kriege, S. 8 u. S. 15, zit. nach M. Eberle: Der Weltkrieg und die Künstler, S. 90

[22]    Plenge, Johann: 1789 und 1914. Berlin 1916, S. 15, zit. nach Gutsche/Klein/Petzold, S. 70.

[23]    Scheler, Max: Vom Genius des Krieges. In: Neue Rundschau Berlin, Oktober 1914, S. 1327f., zit. nach Gutsche/Klein/Petzold, S. 70.

[24]    Die neue Rundschau [= Neue Rundschau Berlin?], Jg. 1914, S. 1475, zit. nach Gutsche/Klein/Petzold, S. 72.

[25]    W. Flex: Der Wanderer, S. 4

[26]    ebenda, S. 9

[27]    Wikipedia.de: Adieu (2012). »Welsch« bedeutete »französisch«.

[28]    FAZ 13.11.2001

[29]    Th. Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen, Vorrede, S. XXXIII. Über die im deutschen Geistesleben seit Immanuel Kant verbreitete Sitte, die deutsche »Kultur« über die französische und britische »Zivilisation« zu stellen, siehe S. ?? [Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation, Bd. 1, S. 1-9]

[30]    B. Frank: Politische Novelle, 2

[31]    zit. nach Otto Köhler: Das Staatsgeheimnis. In: Konkret, Hamburg, ? 1983, S. 53.

[32]    SZ 23.6.2004; G. Hankel: Die Leipziger Prozesse. Die Zeit 24.7.2003

[33]    V. Ullrich: Exzesse auf Zelluloid. Die Zeit 29.7.2004 (ZA Gesch)

[34]    B. Engelmann: Preußen, S. 381f

[35]    ebenda, S. 15, S. 31

[36]    B. F. Smith: Heinrich Himmler. A Nazi in the Making, 1900-1926. Stanford, USA 1971; zit. bei E. Fromm, Anatomie, S. 341

[37]    In der Literatur wird der Rückzug der 1. Armee teilweise auf ein Missverständnis zurückgeführt; der kommandierende General habe stark übertriebene Meldungen über britische Truppenanlandungen erhalten.

[38]    B. Engelmann: Preußen, S. 380

[39]    Deutschland, Deutschland über alles. In: Der Krieg. Das erste Volksbuch vom Großen Krieg, Berlin 1929 (Nachdruck Berlin-West 1980), S. 34ff

[40]    Vögler an Michaelis, 29. 8. 1917, zitiert nach F. Fischer: Krieg der Illusionen, S. 475.

[41]    Vögler an Michaelis, 29. 8. 1917, zitiert nach F. Fischer: Krieg der Illusionen, S. 475.

[42]    Hindenburg verlangte in einer Denkschrift am 5. Juli 1918, einen »polnischen Grenzstreifen… auf dem Wege der Enteignung von der polnischen Bevölkerung zu räumen und mit deutscher Bevölkerung zu besiedeln. (…) Das moderne Rechtsbewußtsein hat sich in Bezug auf persönliche Freiheit und Eigentum gewandelt.« Zitiert nach W. Hubatsch, Hindenburg und der Staat (1966), Nr. 21. Hier kündigte sich das später von den Nazis gepflegte Verhältnis zu Völker- und Menschenrechten an.

[43]    Th. Assheuer: Wider den inneren Feind. Die Zeit 2.3.2006. Rez. zu C. Schmitt: Die Militärzeit 1915 bis 1919. Tagebuch Febr.-Dez. 1915, hg. v. E. Hüsmert u. G. Geisler, Berlin 2005

[44]    Von Mitte 1915 bis Ende 1916 wurden rund 42.000 Belgier deportiert. Mitte 1915 standen 337 belgische Betriebe unter Zwangsaufsicht oder Zwangsverwaltung. Gutsche 127

[45]    Neunzig Jahre Versöhnungsbund. Einladung zu einer Tagung, Minden 2004

[46]    Zentrales Staatsarchiv Potsdam, Reichskanzlei, Nr. 1395/9, Bl. 103, nach Gutsche 68.

[47]    Nach Gutsche 90.

[48]    Nach Der Krieg, S. 57.

[49]    Wikipedia.de: Ernst Bloch (2013)

[50]    Ch. v. Krockow: Die Deutschen, S. 382

[51]    Nach Herbert Wiesner: Thomas Mann und Heinrich Mann. In: Die Großen, hg. v. Kurt Fassmann, Bd. X, Zürich 1978, S. 61.

[52]    Walter Flex: Der Wanderer zwischen beiden Welten. 9. Aufl., München 1918, S. 53, das folgende auf S. 102f, nach Krockow, S. 405, Anm. 15.

[53]    Brief vom 8. 11. 1913. In: Heinrich Mann, Thomas Mann, Briefwechsel 1900-1949, S. 104

[54]    Brief an Hanna Rademacher vom 30. 11. 1914, nach Wiesner, S. 61.

[55]    Th. Mann, H. Mann: Briefwechsel 1900 bis 1949, S. 108, 110

[56]    Friedrich und die große Koalition. Ein Abriss für den Tag und die Stunde. Nach Wiesner, S. 61.

[57]    Nach Wiesner, S. 62.

[58]    In seinem Brief an Heinrich vom 8. 11. 1913 äußerte Thomas Mann die Befürchtung: »Ich bin ausgedient, glaube ich, und hätte wahrscheinlich nie Schrift­steller werden dürfen. „Buddenbrooks“ waren ein Bürgerbuch und sind nichts mehr fürs 20. Jahr­hundert.«  Briefwechsel, S. 104.

[59]    Brief an Karl Strecker vom 18. 4. 1919, nach Wysling, S.  LIII.

[60]    Heinrich Mann: Zola. Darin: Arbeit. In: Geist und Tat, S. 130. Die folgenden Zitate ebenda, S. 133f.

[61]    Ebenda, nach Wysling, S. Lf.

[62]    Th.Mann: Betrachtungen, Vorrede, S. IX. Auch bei Wiesner, S. 62.

[63]    In der Vorrede, S. XX, deutet er sein Motiv an: »Ich habe dabei ein menschlich-tragisches Element des Buches besonders im Auge, jenen intimen Konflikt, dem eine Reihe von Seiten besonders gewidmet sind, und der auch sonst vieler Orten mein Denken färbt und bestimmt.«

[64]    Vorrede, S. XXXIII

[65]    Nach Wysling, S. L

[66]    Vorrede, S. XXXII

[67]    Nach Wysling, S. LI, zur Psychologie S. LII

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