Der hilfsbereite Mensch

Thorsten Försterling, Grit Behrens, Sennestadt 2016

Eine kurze Kulturgeschichte der Kooperation, dargestellt in 14 Brückenschlägen zu einer guten Zukunft der Menschheit. Ein Sachbuchprojekt von Jens Jürgen Korff, begonnen 2021

Foto: Thorsten Försterling und Prof. Grit Behrens auf einer Klimaschutztagung in Bielefeld-Sennestadt 2016 (Fotograf: Peter Wehowsky)

Das Recht der Klügeren

Mit viel Lärm blockieren sie Straßen, bearbeiten Abgeordnete, verteidigen Privilegien, streben zur Herrschaft: Heilige Hausbesitzer, die ihr Recht verteidigen, ungedämmte Häuser mit Öl und Buchenholz zu beheizen und dort auch im Winter im T-Shirt abzuhängen; heilige Pendler, die ihr Recht verteidigen, auf dem Lande zu leben und den weiten Weg zur Arbeitsstelle jeden Tag mit zwei Tonnen Stahl und billigem Dieselkraftstoff zurückzulegen; heilige Landwirte, die ihr Recht verteidigen, auf Kosten der Steuerzahler riesige Maschinenparks über ihre heiligen Äcker rollen zu lassen. Eine Horde von Berlusconis, Bolsonaros, Palins, Le Pens, Melonis, Wilders und Höckes eilt ihnen jederzeit beflissen zur Seite und trompetet das einzige Recht, die einzige Freiheit in die Welt, das sie alle anerkennen: das Recht und die Freiheit des Stärkeren, seine egoistischen Privatinteressen gegen alle Ansprüche des Gemeinwohls skrupellos, hemmungs- und rücksichtslos durchzusetzen. Das, so sagt die ganze Bande unisono, das ist nun einmal die Natur des Menschen, der Kampf ums Dasein, das Grundprinzip des Lebens; es gilt für Pflanzen und Tiere, für die Menschen der Steinzeit, für die Menschen der Digitalzeit. Naturwissenschaftler und Psychologen wie Richard Dawkins, Philip Zimbardo oder Wolf Singer sekundieren ihnen mit passenden Studien, liefern dazu Stichworte wie das »egoistische Gen«, den »Luzifer-Effekt«, den »natürlichen Determinismus« als Musterfreisprüche für arrogante Brutalitäten aller Art.

Die herrschsüchtige Minderheit ist klein, aber laut. Selbst innerhalb von hochgradig manipulierten Versuchen wie Zimbardos Stanford-Prison-Experiment[1] blieben sie in der Minderheit. Dieses Buch widme ich jener Mehrheit der Menschheit, die in aller Regel dazu neigt, freundlich und hilfsbereit mit ihren Mitmenschen umzugehen. Jener Mehrheit, deren Kooperationsbereitschaft die Menschheit wahrscheinlich ihren biologischen Erfolg und ihre gesamte Kultur und Zivilisation verdankt. Sie ist die Grundlage für alle sozialen, kulturellen und ökologischen Dienstleistungsberufe. Die Skrupellosen erklären uns für Looser und Opfer, aber ohne unsere Arbeit würden sie alle schnell verhungern und erfrieren.

Als im Sommer 2021 das Hochwasser des Flusses Inde durch meinen Wohnort Eschweiler geflossen und Hunderte von Ladenlokalen, Arztpraxen, Kindergärten, Schulen und Wohnungen mit stinkendem graubraunem Schlamm gefüllt hatte, kamen auch Hunderte von Helfern aus zahllosen Orten in die Stadt, um den Betroffenen unentgeltlich zu helfen. Ich selbst habe auch mitgeholfen beim Entschlammen einer Arztpraxis und einer fremden Wohnung, beim Wegräumen von Sandsäcken und beim Reinigen der Straßen. Meine Beobachtung war: Sobald einer anfängt, packen andere, die das sehen, mit an. Viele Menschen treibt es in solchen Situationen, anzupacken und zu helfen.

Die Überlieferungslücke schließen

Mit dem Buch möchte ich eine Überlieferungslücke schließen. Ich meine damit Sprüche wie »der Krieg aller gegen alle«, »Der Mensch ist des Menschen Wolf«, «der edle Wilde«, »Unter dem dünnen Firnis der Zivilisation lauert die blutrünstige Bestie« oder »Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken«. Diese Sprüche greifen Vermutungen oder angebliche Erkenntnisse über das Verhalten von Steinzeitmenschen heraus und versuchen, damit das Verhalten von Menschen der Autobahn- und Digitalzeit zu erklären. Zwischen Höhlenmalerei und Non-Fungible Token klafft eine Überlieferungslücke von rund 50.000 Jahren. Können wir die Entstehung von Ackerbau und Viehzucht, die Antike, das sog. Mittelalter, die sog. Neuzeit, die sog. Moderne bei solchen Analogieschlüssen einfach überspringen? Warum sollte ein Verhalten, das wir seit dem 18. Jahrhundert im Kapitalismus beobachten, zum Beispiel das Zeitsparen, ein Erbe der Steinzeit sein, wenn wir es im Zeitalter des Barock oder der Gotik nicht beobachten können? Da wir über das Verhalten der Menschen in diesen Zeiten viel mehr wissen als über das Verhalten von Steinzeitmenschen, warne ich als Historiker vor der Versuchung, Erfahrungen aus dem eigenen Alltag in die Steinzeit zurückzuprojizieren.

Was wir hingegen in der gesamten Kulturgeschichte der Menschheit, also seit mindestens 2700 Jahren, fast durchgängig beobachten können, sind Notizen über Menschen, die sich freundlich, hilfsbereit, kooperativ und nachhaltig verhalten. Diese Notizen haben erstaunliche Ähnlichkeiten, egal, ob sie von chinesischen Religionsstiftern, griechischen Philosophen, christlichen Theologen, arabischen Ärzten, italienischen Äbten, spanischen Mystikerinnen, persischen Dichtern, jüdischen Gelehrten, französischen Aufklärern, britischen Ökonomen, deutschen Mathematikern, deutschen Geographen, österreichischen Psychologen, amerikanischen Biologinnen, vietnamesischen Mönchen, indischen Sozialreformern, brasilianischen Kommunalpolitikern oder südafrikanischen Freiheitskämpfern kommen.

Der Autor

Seit fast fünfzig Jahren versuche ich, in meiner Person naturwissenschaftliche, geistes- und sozial­wissenschaftliche Forschung und Betrachtung zu vereinigen. Fasziniert wechselte ich im Studium zwischen dem Entziffern alter Sitzungsprotokolle, dem Zeichnen mikroskopischer Zellpräparate und der quantitativen Inhaltsanalyse von Zeitungsberichten hin und her. Später, im Berufsleben, ebenso fasziniert zwischen meinen Rollen als Werbetexter, als Aktivist der Friedens- und Ökobewegung, als Stadtführer und Waldschrat. Daher meine Wertschätzung für höchst unterschiedliche Blickwinkel auf Menschen und andere Lebewesen. Diese Freude an der Vielfalt von Gegensätzen konnte ich beim Schreiben des Buches fortsetzen. Ich lade dich ein zu einer Welt- und Zeitreise zu jenen Beobachtungen und Gedanken, die deinen Glauben an Liebe, Vernunft und Verantwortung bestärken werden.


[1]     Zu den Manipulationen R. Bregman: Im Grunde gut (2020), S. 183ff; Ben Blum: The Lifespan of a Lie. gen.medium.com 7.6.2018

14 Gedanken zu „Der hilfsbereite Mensch“

  1. Moin,
    aus den 7 zur Auswahl stehenden würde mich dieses interessieren und das Kräuterbuch. Warum? Eine Geschichte der Kooperation scheint mir Bekanntes und Unbekanntes aus einer anderen Warte zu lesen. Und das Kräuterbuch? Einfach weil ich manchmal neugierig auf etwas bin, was ich bisher nicht beachtet habe.
    grüße
    andreas

  2. zuerst würde ich „Der hilfsbereite Mensch“ lesen. Der an sich hilfsbereite Mensch ist und war unverzichtbar, um Lebensbrüche zu kitten. Verhindert oder angezettelt hat er Kriege allerdings nie. Und auch er verteidigt ab einem bestimmten Punkt seine Ressourcen. Ich freue mich auf eine Reise durch die Jahrhunderte. Das nächste wäre das Kräuterbuch, weil wir es in unserem landwirtschaftlichen Betrieb mit vielen Beikräutern zu tun haben und meine Mutter auch ein bisschen Kräuterhexe war.
    Beste Grüße
    Dagmar

    1. Da verhinderte Kriege keine historischen Ereignisse sind, die erforscht wurden, wissen wir nicht, wie viele Kriege von friedfertigen und hilfsbereiten Menschen verhindert worden sind. Das könnten auch ziemlich viele sein. Einzelne Beispiele sind bekannt geworden wie der Atomkrieg zwischen Usa und Sowjetunion, den der sowjetische Offizier Petrow 1983 wahrscheinlich verhindert hat. Ein Beispiel erzählt Rutger Bregman: Wie Abraham Viljoen und Nelson Mandela 1994 den drohenden Bürgerkrieg in Südafrika verhindert haben. Dazu kommen Kriege, die von Kriegsgegnern beendet wurden: der Erste Weltkrieg 1918; der Vietnamkrieg 1975; der Bürgerkrieg im Libanon 1989.

  3. Hi Jens, ich habe mir die beiden Sachbücher über die deutsche Geschichte und den hilfsbereiten Menschen als Wunschbücher ausgesucht. Einfach weil wir den Glauben an die Menschen nicht verlieren dürfen, wenn wir ein halbwegs friedliches Miteinander hinbekommen wollen. Und da können vor allem konkrete Beispiele von Menschen, die es gegeben hat, als auch die Überzeugungen, wie wir Menschen denn nun wirklich veranlagt sind, weiterhelfen. Ich finde du beschreibst in beiden Vorworten sehr schön, wie wachsam und kritisch wir durchs Leben gehen sollten und wie wichtig es ist, sich von eigenen Erfahrungen und Gefühlen immer wieder verunsichern zu lassen.
    Viele Grüße
    Bettina

  4. Auf dieses Buch warte ich dringend. Wie oft wurde so Wertvolles wie Liebe und Hinwendung, Hilfsbereitschaft und Empathie missbraucht und instrumentalisiert. Waffenlieferungen für den Frieden zermürben meinen Geist. Von diesem Buch erwarte ich viel.

  5. also ich finde die Frage, ob der Mensch eher gut oder eher böse ist langweilig. Was soll da neues herauskommen nach all den vielen hunderten Jahren der Diskussion. Wir wissen doch längst, dass der Mensch beides sein kann, eine Bestie wie die Nazis (verirrt und fanatisch wie unsere Väter oder Großväter und natürlich auch Mütter) und teilen können wie St. Martin. Egoistisch und hilfsbereit kann jeder von uns sein, beides! Ist es wohl auch.

    1. In dem Buchprojekt geht es mir weniger darum, diese allzu pauschale Grundsatzfrage zu klären, als darum, mit Hilfe einiger großer Geister der Frage auf den Grund zu gehen, inwiefern Kooperation, Hilfsbereitschaft, Empathie usw. Teile der conditio humana sind. Dabei folge ich, etwas anders als Rutger Bregman, nicht dem Schema „Egoismus = böse und Kooperation = gut“. Vielmehr sehe ich auch in kooperativen Weltanschauungen Abgründe der Bosheit. Eine Armee z.B., die ein Nachbarland überfallen will, muss ziemlich gut kooperieren, um das hinzukriegen. Dein Einwand regt mich aber zu einem distanzierenden Satz über Bregman in meinem Vorwort an; danke dafür!

  6. Mit diesem Thema verbinde ich viel. Zum Beispiel die für mich beispiellose Hilfsbereitschaft, das ehrenamtliche Engagement, die Offenheit und Zugewandtheit vieler Menschen, die ich nach dem Umzug in unsere jetzige Heimatstadt (bewusst gewählter Begriff) angetroffen habe: in der Nachbarschaft, im Sport- und anderen Vereinen, in der super kreativen, fröhlichen und gleichzeitig so scharfsinnigen BI gegen den Flughafenausbau und an vielen anderen Stellen. Über diese Themen mehr zu lesen, würde mich freuen, und ich glaube, mir ist noch kein ähnliches Werk begegnet.

  7. Hallo Jens,
    Deine Ausführungen finde ich sehr interessant. Sie scheinen in dieselbe Richtung zu gehen, wie sie David Graeber einschlägt. Ich habe jetzt nach seinem „Schulden-Buch“ ein weiteres Buch von ihm gelesen, das den Titel trägt: „Einen Westen hat es nie gegeben.“ Graebers These lautet, dass Menschen immer schon kooperativ und hilfsbereit gewesen seien, auch wenn es zahlreiche Gegenbeispiele gebe und er nicht davon ausgeht, dass es im globalen Rahmen eine sozialistische „Urgesellschaft“ gegeben habe. Auch die Anarchisten, denen er sich selbst zurechnet, hätten im Grunde keine neuen Theorien aufgestellt, sondern nur auf bereits vorhandene Formen einer Gemeinwohl-orientierten Wirtschaftsform zurückgegriffen. Als Ethnologe kann Graeber zudem auf zahlreiche Beispiele für nicht auf Ausbeutung und Profit basierende Gesellschaften verweisen.

    Dies ist zugegebenermaßen ein etwas ungewohnter, gewissermaßen „weicher“ Ansatz, der einer herkömmlichen gesellschaftsverändernden, insbesondere marxistischen Denkweise auf den ersten Blick zu widersprechen scheint.

  8. Hallo Jens,
    a) Menschen sind und bleiben mein Lieblings- und Lebensthema…
    b) teile ich Deine Sichtweise, dass es Sinn macht, nicht per-ma-nent NUR Input und Fokus auf das zu richten, was wir NICHT mehr wollen, sondern auf das/diejenigen, die, um es mal schlicht auszudrücken: Frieden stiften.
    c) Ich mag Ver-Dichtungen – und Du hast viel zusammengetragen und verdichtet – was mir vieeel Arbeit erspart…

    Das Buch ist mein Favorit, würde ich als Erstes lesen und erstehen wollen!
    Herzlich grüßt und wünscht gutes Gelingen
    Maria

  9. Ein spannendes Thema angesichts der vielen Möglichkeiten, die der Homo Sapiens hat und dem, was der daraus macht. Geht die Geschichte doch noch gut aus? Könnte das Buch des Jahrhunderts werden.

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